Im Gastkommentar widmet sich die ehemalige "Le Monde"-Korrespondentin Joëlle Stolz dem angespannten Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich.

Offiziell ist alles paletti zwischen Paris und Berlin. Hinter den Kulissen wird das Klima jedoch rauer. Vor Journalisten in Brüssel – off the record, aber sofort in den Medien zu lesen – hat die frühere französische Staatssekretärin für Europa, Nathalie Loiseau, die gerne Fraktionschefin der liberalen Alde im Europaparlament geworden wäre, schroffe Bemerkungen über den deutschen Partner gemacht. Emmanuel Macron und seine 21 EU-Abgeordneten, die an der langjährigen Hegemonie der Christdemokraten und Sozialdemokraten rütteln wollen, haben sich für die Alde einen neuen Namen gewünscht: Renew Europe. Nieder mit dem "Ordoliberalismus", mit der liberalen Orthodoxie.

Beziehungsstatus: kompliziert. Die Stimmung zwischen Deutschland und Frankreich, Kanzlerin Merkel und Präsident Macron, war schon einmal besser.
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Loiseaus Aussagen haben Berlin schockiert. Zum Beispiel, dass für die Franzosen Angela "Merkel die Hauptsorge ist: Je schwächer sie wird, desto weniger bewegt sie sich." Oder dass "schnell und Merkel nicht zusammengehen". Über Manfred Weber, den EVP-Kandidaten für den Kommissionsvorsitz: "Entweder glaubt Merkel nicht an ihn und es stört sie nicht, ihn fallenzulassen; oder sie glaubt gar nicht an die Kommission, und es würde sie nicht stören, einen völlig farblosen Menschen an deren Spitze zu sehen".

Hochnäsige Franzosen

Loiseau verkörpert die schlimmste deutsche Vorstellung: hochnäsige Franzosen, die noch dazu stolz darauf sind. Der Chef der CDU-Gruppe im Europaparlament, Daniel Caspary, beschuldigt die Franzosen sogar, "deutschenfeindlich" zu sein, obwohl Macron unermüdlich betont, nicht die Deutschen, sondern Weber sei das Problem, weil es diesem "an Format" fehle. Merkel oder Ursula von der Leyen würde er unterstützen.

Interessant auch, dass Ex-Außenminister Hubert Védrine, ein Sozialist, vor einigen Wochen das Ende des "deutsch-französischen Paares" zu Protokoll gab. 40 Jahre, sagt er, sind "lang genug für ein Paar". Konzentrieren wir uns lieber auf den zukünftigen Chef der Europäischen Zentralbank (EZB). Ein Anhänger Schäubles, das heißt ein Fanatiker der Budgetdisziplin, kommt nicht infrage: "Wir brauchen jemanden, der Verständnis hat", so Védrine. Er ist freilich kein Sprecher der französischen Regierung, fasst aber das vorherrschende Gefühl gut zusammen. Der moralische Ton Merkels, die in der Welt die – was das Budget betrifft – zu laxen Franzosen als "Sünder" beschrieb, hat Paris irritiert.

Etwas Nostalgie

Wir dürfen ein bisschen nostalgisch sein. Frühere Politiker haben die Freundschaft unserer Länder gefeiert, nachdem diese sich in zwei Weltkriegen als Feinde bekämpften. Gesten wie jene, als François Mitterrand die Hand Helmut Kohls liebevoll hielt, waren notwendig: In meiner Kindheit haben die Schulbücher stets an den bitteren Verlust von Elsass und Lothringen 1870 erinnert und die Franzosen die Deutschen abschätzig "Boches" genannt, und die jüdische Sängerin Barbara hat noch 1964 die Gemüter erregt, indem sie in ihrem Lied "Göttingen" die des Nazismus unschuldigen "blonden Kinder" erwähnt hat.

Staatsoberhäupter, die für Versöhnung stehen: Helmut Kohl und François Mitterrand.
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In Verdun reichten sie sich 1984 die Hände. Dazu auch Kohls Erinnerungen an diese historische Geste.
Ina Politique

Neue Spannungen

Wie erklären sich die derzeitigen Spannungen? Die Analyse der negativen internationalen Entwicklungen seit der Wahl Donald Trumps, die auch Europa herausfordern, teilen die beiden sicherlich. Für Paris ist Berlin jedoch etwas träge, die Schlüsse daraus zu ziehen: Europa muss gestärkt werden. So ist das zukünftige Eurobudget weit weg von den französischen Erwartungen. Berlin, wo man Angst hat, defizitäre Länder aus Südeuropa, allen voran Italien, finanzieren zu müssen, hat zudem wichtige Verbündete in Skandinavien und den Niederlanden gefunden. Gut für das französische Ego: Der Motor der deutschen Wirtschaft, von den Franzosen einst neidisch bewundert, stottert, während sich Paris über eine Verbesserung des Arbeitsmarkts freuen darf, auch wenn es sich vor allem um befristete und schlecht bezahlte Jobs handelt.

Der Plan Macrons stützte sich 2017 auf einen klaren Deal: EU-Budgetdisziplin und Durchführung notwendiger Reformen in Frankreich gegen substanzielle Fortschritte in der europäischen Integration. Die Gelbwesten haben dieses Szenario zum Entgleisen gebracht. Plötzlich hat Macron 17 Milliarden Euro auf den Tisch gelegt, um das soziale Murren verstummen zu lassen. Jeder weiß, dass Frankreich nicht mehr sein Versprechen halten kann, mit seinem Defizit unter drei Prozent des BIP zu bleiben. Bis Paris offen dieses Dogma infrage stellt, ist (noch) ein weiter Weg. Vorerst hoffen die Franzosen auf einen "verständnisvollen" EZB-Chef.

"Verrückter" Kapitalismus

Dazu kommt, dass die industriellen Stärken Frankreichs und Deutschlands durch die technologischen Brüche, die neue Umweltschutznormen erzwingen, herausgefordert werden. Im postgaullistischen Frankreich waren es Luftfahrt und Atomkraft. Schwierig, sein politisches Programm "grüner" zu machen, wie Macron es jetzt tut, ohne die Atomkraftwerke zu schließen – dieser Sektor beschäftigt mehr als 200.000 Menschen. Sogar die Autoindustrie, die blitzschnell zum Elektroantrieb konvertiert, wird leiden: In diesem Bereich ist China voraus. Das Reich der Mitte, das jahrzehntelang viele Maschinen made in Germany gekauft hat, wovon Deutschland (und Österreich) sehr profitiert hat, wird immer autonomer und für den Westen ein Rivale. Afrika ist kein "zweites China" – junge Afrikaner werden im Norden ihr Glück suchen.

Das Projekt Macrons, eine offene Gesellschaft mit einem humaneren Neoliberalismus zu verbinden, wird darunter leiden. Europa im Zeitalter eines "disruptiven" Kapitalismus ist viel komplexer zu regieren als Frankreich in den Jahren des Wiederaufbaus (1945- 1975). Und wir werden schmerzhafte Entscheidungen zwischen Umweltschutz und neoliberaler Doxa treffen müssen. Beides geht nicht, hat der Ökonom Thomas Piketty in "Le Monde" gewarnt: Man muss mit der Illusion brechen, politische Programme "grüner" zu machen, ohne die zentrale Frage einer gerechteren Verteilung des Reichtums zu stellen. Und mit der eines Wirtschaftsmodells, das ein unbegrenztes Wachstum auf Kosten der Ressourcen voraussetzt.

Der Kapitalismus ist "verrückt geworden", hat Macron jüngst gesagt. Aber selbst Anhänger eines "vernünftigen Kapitalismus", wie Merkel und Macron, werden mit massiven Turbulenzen konfrontiert. Wenn es überleben will, muss das "deutsch-französische Paar" sich völlig neu erfinden. (Joëlle Stolz, 29.6.2019)