Gerade noch einmal gutgegangen. Das lässt sich nach der Wahl der ersten Präsidentin der Kommission im Europäischen Parlament festhalten. Für Jubel besteht kein Anlass, nicht einmal für Genugtuung, auch nicht für selbstzufriedene Beruhigung. Der gesamte ruppige Nominierungsprozess seit den Europawahlen Ende Mai war demokratiepolitisch kein Vorbild. Er war von Machtpolitik, nationalen Interessen und Missachtung der kleinen Mitgliedstaaten geprägt, insbesondere jenen in Osteuropa.

Die Mehrheit für Ursula von der Leyen fiel mit 383 Stimmen sehr knapp aus. Nur zehn Stimmen (bei insgesamt 747) weniger, und die Union wäre in eine tiefe institutionelle Krise gestürzt. Hält man sich vor Augen, dass nach der Wahl des neuen britischen Premierministers nächste Woche entscheidende Verhandlungen zum Brexit anstehen, wird klar, in welch prekärem Zustand die EU ist.

So darf und kann es nicht mehr weitergehen: Die Union braucht dringend eine Demokratiereform an Haupt und Gliedern, nicht nur ein paar Retuschen, etwa beim sogenannten Modell Spitzenkandidat. Die gesamte institutionelle Architektur der Gemeinschaft muss auf den Prüfstand.

Die Mehrheit für Ursula von der Leyen fiel sehr knapp aus.
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Es braucht ein gemeinsames EU-Wahlrecht, die Abschaffung der Vetorechte einzelner Staaten, ein EU-Parteiengesetz mit Transparenzregeln zur Parteien- und Wahlkampffinanzierung. Die EU-Kommission muss verkleinert und dadurch handlungsfähiger werden. Das und noch mehr sollte durch die Einberufung einer Regierungskonferenz unter Einbindung der Bürger noch in diesem Jahr begonnen werden. Prioritätsstufe eins. Es ist alarmierend und schockierend, wie viele EU-Bürger in den sozialen Medien zum Ausdruck bringen, dass sie sich bei den nächsten Europawahlen nicht mehr beteiligen wollen.

Kein Wunder. Nicht nur sind die Mitgliedstaaten zerstritten, gespalten, bei der Migration in West und Ost, in Sachen Europolitik in Nord und Süd. Die Debatte rund um die Kommissionschefin hat gezeigt, dass auch das Parlament und seine Fraktionen nicht in Bestform sind. Ursula von der Leyen kann für sich in Anspruch nehmen, dass sie mit einer furiosen Rede zumindest aufgerüttelt hat. Sie hat auch in der gebotenen Klarheit den Rechten im Parlament ins Gesicht geschleudert, dass deren Beiträge zur Beschädigung, zum Kaputtreden der EU "bei Gott verzichtbar" sind.

Aber das reicht nicht. Es droht Lähmung. Auch Fraktionen, die Europa bisher konstruktiv mittrugen, sind inzwischen zu Risikofaktoren geworden, sind gespalten. Allem voran gilt das für die Sozialdemokraten: Zwei Drittel der Fraktion stimmten gegen die Präsidentin, ein Drittel für sie, obwohl von der Leyen ein "linkes" ökosoziales Programm vortrug, wie man es von Christdemokraten noch nie gehört hat. Auf der anderen Seite sind offenbar einige Dutzend EVP-Abgeordnete genau deshalb von ihrer Kandidatin abgerückt.

Dafür haben die polnischen Nationalisten für sie gestimmt. Die Grünen, die sich stets zu den größten Proeuropäern erklären, votierten praktisch geschlossen gegen von der Leyen. Man könnte sagen: So ist eben die Demokratie – vielfältig. Das ist natürlich richtig, aber trügerisch, wenn man die Vorgänge der letzten Wochen Revue passieren lässt. Der Machtkampf zwischen Parlament und dem Rat der Regierungen hat schonungslos offengelegt, wie groß die Defizite sind. Wir brauchen die große europäische Demokratiereform. (Thomas Mayer, 17.7.2019)