Der KZ-Komplex Gusen in Oberösterreich wurde als Mauthausen-Außenlager geführt. Hier wurden tausende Menschen zu tödlicher Schwerstarbeit gezwungen.

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Im Stollensystem in St. Georgen an der Gusen mussten Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten.

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Ab 1944 wurden hier Düsenjagdflugzeuge des Typs Messerschmitt Me 262 endgefertigt.

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Es klingt nach einer Sensation für die zeithistorische Forschung: Ein am Sonntag im "ZDF" ausgestrahlter Dokumentationsfilm konstatiert, die Geschichte des Konzentrationslagers Gusen in Oberösterreich müsse völlig neu geschrieben werden – denn Quellenfunde würden belegen, dass unter der bekannten Stollenanlage in St. Georgen an der Gusen (Bezirk Perg) ein weiteres Tunnelsystem riesigen Ausmaßes existierte, in dem tausende Häftlinge Zwangsarbeit verrichten mussten. Neue Dokumente und Untersuchungen würden nahelegen, dass es eine bislang unbekannte unterirdische Ebene in Gusen gegeben habe, die bis zu 40 Kilometer Stollen beherbergt habe und gar einem zweiten, streng geheimen KZ gleichgekommen sei.

Dort, so wird spekuliert, könnten bis heute die Überreste tausender getöteter Häftlinge liegen, nachdem die SS die voll besetzten Stollen angesichts der herannahenden Alliierten gesprengt hätten. "Die geheimste Unterwelt der SS" lautet der Titel des Films, über den sich österreichische Experten für das Lager, das als Außenstelle des KZ Mauthausen geführt wurde, in ersten Stellungnahmen verwundert bis irritiert zeigen, denn es würden keinerlei Belege oder Fakten für diese weitreichenden Behauptungen auf dem Tisch liegen.

Wiederholte Sensationsmeldungen

Hinter der als Enthüllung inszenierten "ZDF"-Dokumentation steht unter anderem der Linzer Filmemacher Andreas Sulzer. Es ist nicht das erste Mal, dass Sulzer mit Sensationsmeldungen rund um Gusen aufhorchen lässt: Schon 2015 veröffentlichte er einen Film über die von der SS betriebene Stollenanlage, in dem er die These vertrat, der Untertagebau sei weitaus größer als gedacht. Wie im neuen Film legte Sulzer auch damals die Vermutung nahe, das weitere Stollensystem habe einen anderen Zweck gehabt als den, für den Gusen längst bekannt ist. Hier seien womöglich nicht nur Düsenjagdflugzeuge in großem Stil gefertigt, sondern auch Raketen- und Atomwaffenforschungen betrieben worden.

Unter Wissenschaftern stieß der Filmemacher 2015 auf Kritik: Eine vom damaligen Bezirkshauptmann einberufene Expertenkommission aus Historikern, Archäologen, Stollenbau-Sachverständigen und Experten des Bundesdenkmalamtes untersuchte alle vorgebrachten Hinweise – und entkräftete sie. Auch die Historikerin Barbara Glück, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, war damals Mitglied in der Kommission. Über den Ablauf der neuen Veröffentlichung äußerte sie im Gespräch mit dem STANDARD Bedauern.

Unklare Quellenlage

Das KZ-System Gusen sei bereits gut erforscht, unter allen vorliegenden wissenschaftlichen Quellen gebe es keine Beweise für weitere Stollen. "Es handelt sich hier um reine Spekulationen, die auf Indizien beruhen, und wir finden es unverantwortlich, damit an die Öffentlichkeit zu gehen", sagt Glück, die wie andere Experten der Gedenkstätte vorab nichts von der Veröffentlichung wusste. Man sei noch dabei, alle im Film aufgeworfenen Spekulationen und Hinweise zu überprüfen.

Einige der Indizien, auf die sich diese stützen, habe man bereits entkräften können. Was den Forschern der KZ-Gedenkstätte Mauthausen aufstößt: Die angeblichen neuen Quellen waren für sie bislang nicht einsehbar, das sei schon 2015 so gewesen. "Wenn es wirklich neue Dokumente gibt, sind wir die Ersten, die sich dafür anstellen, damit wir sie in unsere laufende Forschungsarbeit einfließen lassen können", sagt Glück.

Tatsächlich befand sich in St. Georgen an der Gusen unter dem Tarnnamen "Bergkristall" eine der größten und mörderischsten unterirdischen Produktionsanlagen des Deutschen Reichs. Angesichts der alliierten Luftangriffe gab es seit 1943 Pläne, wichtige Rüstungsbetriebe unter Tage zu verlegen. Ab März 1944 mussten im Lager Gusen KZ-Häftlinge unter SS-Aufsicht am Stollenbau und ab Herbst in der Produktion von Düsenjagdflugzeugen des Typs Messerschmitt Me 262 arbeiten. Die entsetzlichen Bedingungen kosteten tausende Menschen das Leben, die Lebenserwartung der Häftlinge in Gusen betrug im Durchschnitt gerade einmal drei Wochen.

Widersprüchliche Aufzeichnungen

Doch für die neuen Behauptungen fehle es an wissenschaftlicher Basis, sagt Glück. So wird in dem Film das Bild erweckt, dass Lageraufzeichnungen zufolge vom 8. auf den 9. April 1945 plötzlich 18.500 Häftlinge aus Gusen verschwunden seien. Wurden sie in unbekannten Stollen von der SS begraben? Glück: "Wir haben die Dokumente natürlich bei uns im Archiv liegen, und an beiden Tagen werden um die 23.000 Häftlinge für das gesamte System Gusen als Tagesmeldung genannt. Wir haben auch eine sehr umfassende Datenbankforschung und sind heute in der Lage, fast jeden Häftling auch beim Namen zu nennen. Wir können ausschließen, dass hier von einem Tag auf den anderen 18.500 Häftlinge verschwunden sind."

Eine zentrale Stelle des Films zeigt Walter Chmielewski, den Sohn des ehemaligen Lagerkommandanten Karl Chmielewski. Er erinnere sich, dass damals "vom unterirdischen KZ" die Rede gewesen sei und davon, dass Häftlinge unter Tage leben mussten. Chmielewski war 14 Jahre alt, als der Stollenbau in St. Georgen an der Gusen begann. Glück von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen betont im Hinblick darauf, wie wichtig es sei, mit Zeitzeugenaussagen sensibel umzugehen und sie nicht als Tatsachenfeststellungen zu betrachten. "Es ist ganz wichtig, sie in den historischen Kontext zu stellen und erst dann zu bewerten. Wir haben auch eine sehr umfassende Datenbank an Interviews mit Zeitzeugen, und hier spricht keiner von den hier angesprochenen Spekulationen."

"Starke Indizienkette"

Ähnlich wie Glück hatten am Sonntag auch Historiker des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien reagiert: Die Vorstellung eines geheimen unterirdischen Konzentrationslagers sei abenteuerlich und widerspreche allen Erkenntnissen einer seriösen KZ-Forschung, hieß es in einer Stellungnahme gegenüber der "ZiB 2". Anders sah das Stefan Karner, der selbst an der "ZDF"-Dokumentation mitgewirkt hat. Der emeritierte Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz sprach davon, dass neue Dokumente eine "eindeutige, starke Indizienkette geben, dass es in Gusen weit mehr gegeben hat, als bisher vermutet wurde."

Das sieht naturgemäß auch Filmemacher Andreas Sulzer so: Zeitzeugenberichte, Geheimdienstprotokolle und Luftbilder der US-Luftwaffe würden ein neues Bild zeichnen, sagt er zum STANDARD. Er betont, dass es sich bei dem Projekt um eine Kooperation mit vielen Beteiligten handle und seit seinem Film 2015 neue Archivfunde hinzugekommen seien. Sind diese Quellen nun auch für Fachhistoriker einsehbar? "Nachdem das Aktenfunde eines internationalen Konsortiums sind, muss man das klären. Aber wir laden gerne die Kollegen, die das anders sehen, ein, das im Rahmen einer international unabhängigen Kommission aufzuarbeiten", sagt Sulzer. (David Rennert, 9.9.2019)