Bild nicht mehr verfügbar.

Im Vorjahr posierte Fabiola Gianotti zum Auftakt der Arbeiten für den High Luminosity LHC – nun geht es darum, dessen Nachfolge zu planen.
Foto: Reuters / Denis Balibouse

Mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens ist den Physikern am Europäischen Kernforschungszentrum Cern 2012 der Nachweis des letzten fehlenden Teilchens des Standardmodells (siehe Wissen unten) gelungen. Doch nun bricht eine neue Ära für das Cern an – der Aufbruch ins völlig Unbekannte. Cern-Generaldirektorin Fabiola Gianotti fühlt sich dabei ein wenig "wie Christoph Kolumbus". Welche großen Fragen sie dabei antreiben, das Schiff für den Aufbruch in unbekannte See bereit zu machen, erzählte sie vergangene Woche bei einem Besuch in Wien anlässlich der 60-jährigen Mitgliedschaft Österreichs am Cern.

STANDARD: Das Cern war in den vergangenen Jahren auch deshalb so erfolgreich, weil es mit dem Standardmodell einen guten Wegweiser hatte. Wie geht es weiter?

Gianotti: Wir treten in eine neue Ära ein, und das ist sehr aufregend. In der Physik jenseits des Standardmodells gibt es einige große Fragen, die bisher noch nicht beantwortet werden konnten. Wir nehmen an, dass es weitere Teilchen geben muss, die wir noch nicht kennen, oder gar neue Kräfte. Wir wissen aber nicht, wo wir sie finden können. Wir verfolgen daher verschiedene Ansätze wie neue Teilchenbeschleuniger, Untergrundexperimente, in denen wir kosmische Teilchen detektieren, oder Messungen im Weltraum. Es ist also eine wirklich aufregende Zeit. Wir sind in einer ähnlichen Situation wie einst Christoph Kolumbus – wir stehen vor dem Aufbruch ins völlig Unbekannte und wissen nicht, was wir entdecken werden.

In diesem Video spricht die Cern-Generaldirektorin Fabiola Gianotti über die Pläne für künftige Teilchenbeschleuniger. Video: Science Museum
Science Museum

STANDARD: Welche großen offenen Fragen treiben Sie an?

Gianotti: Die Materie, die wir kennen, macht nur fünf Prozent des Universums aus. Die restlichen 95 Prozent sind Dunkle Materie und Dunkle Energie – darüber wissen wir sehr wenig. Wir wollen ein Teilchen finden, mit dem wir die Dunkle Materie beschreiben können. Eine andere offene Frage ist, warum das Universum heute fast ausschließlich aus Materie besteht und nur sehr wenig aus Antimaterie. Antimaterie ist genauso nett wie Materie, auch wenn manche Filme einen anderen Eindruck vermitteln.

STANDARD: Was interessiert Physiker an Antimaterie?

Gianotti: Sehr vereinfacht gesagt ist Antimaterie Materie mit gegenteiliger Ladung. Beispielsweise ist das Elektron ein Teilchen mit negativer Ladung. Das Antiteilchen dazu ist das Positron mit positiver Ladung. Wir glauben, dass Materie und Antimaterie bei der Entstehung des Universums im gleichen Ausmaß vorhanden waren. Dann ist die Antimaterie verschwunden, wir wissen aber nicht, wie das passiert ist. Heute leben wir in einem Universum, das fast ausschließlich aus Materie besteht. Das ist gut, denn wenn Materie und Antimaterie kollidieren, vernichten sie sich gegenseitig. Wenn also Materie und Antimaterie im selben Ausmaß überlebt hätten, wären wir nicht hier.

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens 2012 war eine wissenschaftliche Meisterleistung. Seine mysteriösen Eigenschaften machen das Teilchen zu einem aussichtsreichen Kandidaten für weitere Entdeckungen.
Foto: Cern

STANDARD: Auch das 2012 entdeckte Higgs-Teilchen, mit dem die Masse aller anderen Elementarteilchen erklärt werden kann, wird Sie weiterhin beschäftigen – warum?

Gianotti: Das Higgs-Boson ist sehr mysteriös, es unterscheidet sich stark von den anderen 16 Elementarteilchen. Es interagiert auch auf sehr spezielle Art mit anderen Teilchen. Wir wollen es daher mit größerer Präzision als bisher messen. Da es so einmalig ist, könnte das Higgs-Teilchen das Tor zu einer neuen Physik und zu großen Entdeckungen sein. Es könnte uns Hinweise für eine neue physikalische Theorie oder für Dunkle Materie liefern.

STANDARD: Indem Sie also normale Materie erforschen, hoffen Sie, ungewöhnliche Materie besser zu verstehen?

Gianotti: Ja, genau.

STANDARD: Derzeit wird am Cern diskutiert, welcher Beschleuniger dem Large Hadron Collider (LHC) nachfolgen soll. Hoch im Kurs stehen der Linearbeschleuniger Compact Linear Collider (CLIC) und der 100 Kilometer lange Ringbeschleuniger Future Circular Collider (FCC). Welcher wäre Ihr Favorit?

Gianotti: Beide haben sehr überzeugende Potenziale, aber jeweils auch Nachteile. Im Moment bin ich daher neutral eingestellt.

Die Forschung, die am Europäischen Kernforschungszentrum betrieben wird, ist äußerst vielfältig. Video: Cern
CERN

STANDARD: Neben den Einblicken in die Entstehung des Universums: Welchen praktischen Nutzen hat das Cern für die Bevölkerung?

Gianotti: Grundlagenforschung ist der Antrieb von Innovation. Unsere physikalischen Ziele am Cern sind so ambitioniert, dass sie nicht erreicht werden können, ohne die Grenzen des technologischen Fortschritts zu verschieben. Diese neuen Technologien teilen wir kostenlos mit der Gesellschaft. Das bekannteste Beispiel dafür ist das World Wide Web, das am Cern entwickelt worden ist und der Gesellschaft kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Wir verstehen es auch als unsere Aufgabe, junge Menschen für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern. Die Jobs wachsen in diesem Gebiet viel schneller als in anderen Bereichen. Trotzdem entscheiden sich in Europa weniger als 20 Prozent der Studienanfänger für Naturwissenschaft, Technik oder Mathematik.

STANDARD: Wie können mehr Junge dafür begeistert werden?

Gianotti: Das Beste ist, wenn Wissenschafter ihre Erkenntnisse mit der Bevölkerung teilen. Für mich persönlich gibt es nichts Befriedigenderes im Leben, als in meinem kleinen Bereich etwas zu leisten, damit die Menschheit einen Schritt weiter kommt. Es ist wichtig, dass wir Wissenschafter unsere Leidenschaft für die Wunder der Natur und des Universums mit der jungen Generation teilen.

STANDARD: Vor allem Frauen sind in Naturwissenschaften und Technik unterrepräsentiert – wie lässt sich das ändern?

Gianotti: Ich denke, das hat teilweise historische Gründe. Wir müssen mehr Anstrengungen auf uns nehmen, Mädchen zu sagen, dass es keine Jobs gibt, die nur für Männer sind. Rolemodels spielen dabei eine sehr wichtige Rolle. Ich bin auch deswegen in die Physik gegangen, weil ich mit 17 Jahren eine Biografie von Marie Curie gelesen habe, die mich enorm fasziniert hat. Weiters ist es natürlich auch wichtig, eine Infrastruktur für Kinderbetreuung aufzubauen, die es Frauen ermöglicht, Beruf und Familie zu vereinbaren.

STANDARD: Sehen Sie sich selbst als Rolemodel für Physikerinnen?

Gianotti: Ich bin Physikerin, doch ich will mich selbst auf kein Podest stellen. Ich habe mich für die Wissenschaft entschieden, weil ich die Natur erforschen will. Aber wenn ich in meiner derzeitigen Position nützlich sein kann, junge Frauen zu ermutigen, eine Karriere in der Wissenschaft anzustreben, bin ich sehr glücklich, diese Rolle einzunehmen. (Tanja Traxler, 13.9.2019)