Ein Bild der offiziellen syrischen Nachrichtenagentur Sana: Syrische Soldaten rücken über die Route Aleppo–Hassakeh vor. Ob die Bevölkerung wirklich so begeistert ist, sei dahingestellt.

Foto: AFP/Sana

Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan spricht in Superlativen von der Zehn-Punkte-Vereinbarung zu Nordsyrien, die er am Dienstag mit Wladimir Putin in Sotschi ausgehandelt hat. Nach den sechs Stunden, die ihr achtes Treffen in diesem Jahr dauerte, sprach Erdoğan von einem "historischen Abkommen". Am Mittwoch hat die Türkei nach Angaben von US-Präsident Donald Trump eine dauerhafte Waffenruhe in Nordsyrien verkündet. Und auch wenn die meisten Kommentatoren den russischen Präsidenten als eigentlichen Sieger sehen, so stimmt es doch, dass Erdoğan einiges erreicht hat.

Was die Türkei bekommt:

Erdoğan hat schwarz auf weiß die russische Anerkennung, dass die Operation "Friedensquell" in Nordsyrien im Rahmen der Sicherheitsinteressen der Türkei steht. Putin gibt damit zu, dass die Präsenz der syrisch-kurdischen YPG-Milizen an der türkischen Grenze für Ankara nicht akzeptabel ist. Im Text ist von "Terroristen" und einer "separatistischen Agenda" die Rede: Das ist die türkische Sicht auf die YPG und ihre Partei PYD. Russland verpflichtet sich, sie 30 Kilometer von der Grenze fernzuhalten. In einem Zehn-Kilometer-Streifen wird die Türkei gemeinsam mit Russland patrouillieren, sie gibt also die Kontrolle nicht völlig ab: Das ist wichtig, um den Deal zu Hause zu verkaufen.

Und von den Türken wird nicht verlangt, sich bzw. ihre syrisch-arabischen Hilfstruppen vom bisher eroberten Gebiet zurückzuziehen. Zwischen Ras al-Ayn und Tal Abyad behält die Türkei die Kontrolle und kann eventuell auch den Plan verwirklichen, syrische Flüchtlinge hinzubringen.

Was Russland bekommt:

Erdoğan hat sehr wohl etwas zu bieten, was Putin von ihm haben wollte – und auch bekommen hat: Die Türkei musste sich zur politischen und territorialen Einheit Syriens bekennen und den von Russland aufgesetzten politischen Prozess für Syrien anerkennen. Im letzten Punkt verpflichtet sich Ankara, das Verfassungskomitee zu unterstützen, das in Kürze seine Arbeit aufnimmt. Ohne die Mitwirkung der Türkei ist das diplomatische "Astana"-Format – benannt nach der Hauptstadt Kasachstans, wo die Verhandlungen begonnen haben – nur halb so viel wert.

Was nicht in den Sotschi-Punkten vorkommt und nur auf der Pressekonferenz zur Sprache kam: Idlib, das weiter unter Kon trolle der Türkei und von Rebellen steht. Putin kann hoffen, dass auch hier ein russisch-türkischer Deal leichter wird.

Was Assad bekommt:

Putins Gewinn ist Assads Gewinn. Das syrische Regime wurde ja schon vor Sotschi zum Profiteur, als die YPG der russischen Armee und diese der syrischen Armee Gebiete übergab, um sie dem türkischen Zugriff zu entziehen.

Die Erwähnung des Adana-Abkommens von 1998 im Sotschi-Text könnte den türkisch-syrischen Beziehungen einen Weg nach vorne weisen. Damals einigten sich die Türkei und Syrien darauf, dass Syrien keine PKK-Elemente auf seinem Territorium operieren lässt. Die Türkei hat sich bei ihrem Einmarsch unter anderem auf Adana berufen, von Russland wurde es als Grundlage akzeptiert. Wenn nun aber Assad in die Lage versetzt wird, im Sinne eines neuen Adana-Abkommens wieder die Grenzen zu kontrollieren, dann ist die rechtliche Basis für türkische Operationen – oder Präsenz – hinfällig.

Was die Kurden verlieren:

Es ist das Ende des Projektes der syrisch-kurdischen PYD/YPG und der mit ihnen verbundenen Kurdengruppen: Im Oktober 1998 wurde PKK-Führer Abdullah Öcalan aus Syrien ausgewiesen, 19 Jahre später wird die Präsenz von PKK-nahen Kurden an der türkischen Grenze beendet. Und die Türkei bekämpft zwar explizit nur diese Gruppen, die Ereignisse sind jedoch eine Katastrophe für alle syrischen Kurden und viele andere in dem betroffenen Gebiet lebende Menschen.

Wo die USA bleiben:

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass nun die Türkei mit Russland die Grenzzone überwachen wird – und nicht, wie früher zwischen Erdoğan und Donald Trump vereinbart, gemeinsam mit den USA. Der US-Präsident hat den Russen die Schlüssel übergeben und die im Stich gelassenen Kurden Assad in die Arme getrieben. Und nun wissen die USA nicht, wohin mit den abgezogenen Truppen. Eigentlich wollen sie jetzt doch wieder eine kleine Präsenz erhalten – aber es ist nicht klar, wie und wo. Außerdem haben sie vergessen, die Regierung des Irak – ein souveräner Staat – zu fragen, ob sie überhaupt Truppen von Syrien dorthin verlegen können. (Gudrun Harrer, 23.10.2019)