Adam Cheng kaut angestrengt auf einem trockenen Sandwich herum und blickt in Richtung Kowloon. Noch ist es an diesem Sonntag ruhig auf der anderen Seite des Hongkonger Hafens. Wenige Stunden später wird es brennen in Kowloon. Tränengasschwaden werden über der Stadt hängen, Demonstranten und Polizisten aufeinander losgehen. "Und das ist, verdammt noch einmal, schlecht fürs Business", stöhnt der Anwalt.

Generationenkonflikt

Vor 15 Jahren ist Cheng aus Schanghai zugewandert, um hier seine eigene Kanzlei aufzubauen. Im Hong Kong International Arbitration Centre, im 38. Stock eines funkelnden Wolkenkratzers am Exchange Square gelegen, hört er sich die Eröffnungsdebatten der "Schiedsgerichtswoche" an. Es ist eine gute Gelegenheit, um Netzwerke zu knüpfen, über geringe Honorarsätze zu jammern und zu politisieren: "Ich glaube nicht an das ganze Gerede über Demokratie und Freiheit. Das ist ein Generationenaufstand. Diese Kids haben nichts zu verlieren", sagt Cheng. Wenn sie von den Unis abgingen, dann würden sie in Hongkong weder Wohnungen noch Jobs finden. Eine eigene Familie zu gründen, sei beinahe illusorisch. "Wer würde da nicht protestieren?"

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Die Sicherheitskräfte setzen enorme Mengen an Tränengas gegen die Demonstranten in Hongkong ein.
Foto: Reuters

Die Unruhen in Hongkong dauern nun schon seit dem Frühsommer an. Entzündet haben sie sich an einem Auslieferungsgesetz, das die Übergabe von verdächtigen Straftätern von den Stadtbehörden an jene des Festlandes ermöglichen sollte. Dagegen gingen zwei Millionen Hongkonger im Sommer friedlich auf die Straße. Seither flauen die Proteste nicht und nicht ab. Im Gegenteil: Sie werden immer gewalttätiger – aufseiten der Demonstranten, vor allem aber aufseiten der Polizei. Pekingnahe Kreise sollen zudem Kriminelle dafür bezahlen, so wird immer wieder gemunkelt, damit diese mit Gewalt gegen Demokratieaktivisten vorgehen.

Die vorwiegend jungen Demonstranten (siehe Interview unten) stellen fünf Forderungen an die Regierung der Hongkonger Sonderverwaltungszone: die Rücknahme des Auslieferungsgesetzes; die Strafverfolgung von Polizeigewalt; freie und faire Wahlen; Straffreiheit für festgenommene Demonstranten und schließlich sollen die Demonstra tionen von den Behörden nicht als "Ausschreitungen" bezeichnet werden. Die erste Forderung hat Regierungschefin Carrie Lam am Dienstag erfüllt. Gleichzeitig wurde kolportiert, dass ihre Amtszeit ein Ablaufdatum trage.

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Zum Beispiel bei den Protesten vom vergangenen Sonntag in Kowloon.
Foto: Reuters

Fünf Forderungen

Wenn Lam tatsächlich gehen muss, sagt einer, der mit einer Pint Craft Beer an der Bar des Foreign Correspondents’ Club an der Lower Albert Road lehnt und seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, dann würde das Erleichterung bringen. Die von der Zentralregierung ernannte Technokratin habe bisher auf ganzer Linie versagt. Die zuletzt von Peking in der Financial Times gestreuten – und umgehend wieder dementierten – Gerüchte zeigten, dass es einen "angestoßenen Prozess und eine Deadline gibt" (den Volkskongress im März). Die ins Spiel gebrachten Nachfolger, der ehemalige Notenbanker Norman Chan und der frühere Finanzminister und Erbe eines Textilimperiums Henry Tang, seien gute Signale an die Business-Community. "Und das ist das, was zählt in dieser Stadt – auch für Peking."

An der University of Hong Kong sieht man die Sache ein wenig anders. Sie ist eines der Zen tren des Widerstands gegen die Stadtregierung. Auf dem steilen Campus, ein paar Minuten vom Finanz- und Geschäftsdistrikt entfernt, finden sich dutzende Meter lange Dokuwände mit Fotos und Dokumenten zu den Protesten. An den Wänden und auf den Böden prangen Graffiti: "Better a rebell than a slave!"

Cor steht an einer dieser Wände und liest die Aushänge. Sie wirkt alles andere als rebellisch. Immer wenn sie etwas sagt, hält sie die Hand vor den Mund – so als wollte sie sich beinahe dafür entschuldigen. "Es ist schön, dass Frau Lam das Auslieferungsgesetz zurückgezogen hat. Aber das reicht nicht. Es geht nun um freie Wahlen", sagt die Architekturstudentin. Ob es ihr denn zuletzt zu gewalttätig geworden sei? Nein, sagt die sanftmütige 20-Jährige, denn die Hongkonger kämpften für mehr als ein paar kosmetische Zugeständnisse.

Truppen in Shenzhen

Diese Radikalität bereitet vielen Chinesen Sorgen – in Hongkong und noch mehr auf dem Festland. In der angrenzenden Metropole Shenzen, wo Peking allumfassende Kontrolle über seine Bürger ausübt, hat die kommunistische Führung ein Lagezentrum eingerichtet, um mit dem Aufruhr umzugehen. Auch Sicherheitskräfte und Militär sind dort zusammengezogen. Ein vernünftigeres Rezept als Drohungen – Präsident Xi Jinping will alle, die die Souveränität Chinas infrage stellen "zu Staub zermalmen" – haben die Parteimandarine aber nicht gefunden. Einzumarschieren aber wäre ein Tian’anmen-Moment für Xi und würde der Reputation der Volksrepublik schwer schaden.

Ausschließen will das in Hongkong dennoch niemand. "Wir sind guten Mutes, dass wir die Probleme hier selbst lösen können", sagt Teresa Cheng, die Hongkonger Justizministerin, im Interview mit dem STANDARD. Es klingt wie ein Pfeifen im Wald. Für Donnerstag war eine neue Demo akkurat zur Unterstützung katalanischer Separatisten angesetzt. Je länger die Proteste dauern, desto größer wird der Handlungsdruck auf Peking.

Im Foreign Correspondents’ Club sieht man einen Ausweg in den kommenden Kommunalwahlen. Wenn die demokratische Energie dorthin umgeleitet werden könnte, heißt es, wäre das ein Vorteil für alle. Allein: Das Grundproblem von Freiheit und Demokratie in China wäre damit nur bis zum nächsten Testfall vertagt. (Christoph Prantner, 23.10.2019)