Ümit Vural ist Jurist und seit Dezember 2018 Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ).
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Seit einem knappen Jahr ist Ümit Vural, geboren 1982 in der Türkei, Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ). Der Jurist mit türkisch-kurdischen Wurzeln fährt einen deutlichen Modernisierungskurs und möchte die Isolation der IGGÖ durchbrechen, trat aber auch gegen die seiner Meinung nach schikanöse Politik der türkis-blauen Regierung auf (Verfassungsklage gegen das Kopftuchverbot).

STANDARD: Herr Präsident, die Islamische Glaubensgemeinschaft feiert ihr 40-jähriges Bestehen in dieser Form, aber den Islam gibt es viel länger in Österreich.

Vural: 1979 haben wir die Genehmigung für eine islamische Religionsgemeinde bekommen, aber das Versprechen Österreichs an die Muslime ist viel älter und geht auf die Habsburgermonarchie zurück – mit der Annexion Bosniens. Gerade diese Tradition ist ein Grund, warum viele uns hier beneiden, weil es eine ganz andere Geschichte im Umgang mit dem Islam gibt.

STANDARD: Welche Philosophie vertreten Sie für die nächsten Jahre angesichts der bestehenden Probleme?

Vural: Österreich ist ein buntes, ein vielfältiges Land, wie auch die Muslime vielfältig sind. Einige von uns sind zwischen Bregenz und Eisenstadt geboren, andere in Deutschland oder in der Türkei oder Bosnien. Wir haben in Österreich gelernt, dass wir Einheit in Vielfalt leben können. Die letzten 40 Jahre waren geprägt durch den Slogan "Integration durch Partizipation". Ich würde gerne bei der Feier am Sonntag die nächsten 40 Jahre mit dem Slogan fortsetzen "Einheit in Vielfalt. Stärke im Zusammenhalt. Der österreichische Weg zu einer europäischen muslimischen Identität". Manche sind sunnitisch, manche schiitisch, aber wir stehen zusammen. Es ist kein Widerspruch, ich bin österreichisch und muslimisch, denn ich bin europäisch muslimisch.

STANDARD: Da gibt es aber noch die Aleviten, darunter viele Kurden. Die haben eine eigene Gemeinschaft gegründet.

Vural: Ich würde 50.000 schätzen. Das sind genauso Muslime, und ich würde mir wünschen, dass alle in der Islamischen Glaubensgemeinschaft bleiben. Wir haben Muslime unterschiedlicher Schulen, unterschiedlicher Glaubenspraxen, manche sind mehr fromm, andere weniger, aber wir haben ein Islamverständnis, das im Kern von einem Wertekanon geprägt ist, welcher mit zivilisierten Rechtsstaaten in Einklang steht. Wir sagen, dass unsere Herzen Gott gehören, aber es unsere Aufgabe ist, den Menschen zu dienen. Ich bin angetreten, um dem Islam ein Gesicht zu geben, ein europäisches Gesicht, ein österreichisches Gesicht, ein Wiener Gesicht. In zivilisierten Rechtsstaaten, in denen die Religionsfreiheit gesichert ist, geht das Hand in Hand.

STANDARD: Sie betonen so sehr den Begriff "zivilisierter Rechtsstaat". Vertreten Sie einen europäischen Islam im Gegensatz zu muslimischen Ländern, in denen es keine oder kaum Religionsfreiheit gibt?

Vural: Der Islam ist eine Weltreligion. Jene, die versuchen, den Islam zu ändern, werden nicht erfolgreich sein. Wir müssen versuchen, die Menschen zu ändern, denn die repräsentieren den Islam.

STANDARD: Das ist mir zu abstrakt.

Vural: Die Glaubensquellen sind der Koran. Den kann man nicht ändern. Aber das, was wir wahrnehmen, sind die Menschen, die die Religion leben. Die müssen wir ändern. Ich glaube, es ist einiges falsch gelaufen, sowohl innermuslimisch wie nicht muslimisch. Die Studien der letzten Zeit sagen das (es bestehe großes Misstrauen gegenüber islamischen Mitbürgern, Anm.). Innermuslimisch stelle ich mir die Frage: Das sind doch unsere Nachbarn, unsere Arbeitskollegen – wie kommt es, dass sie unsere Religion als Gefahr wahrnehmen? Daher müssen wir unsere Herzen, unsere Türen öffnen. Ich vermittle unseren Imamen, dass unsere Welt nicht nur mehr aus unseren Moscheen besteht, sondern wir eine Verantwortung unseren Mitmenschen gegenüber haben. Daher brauchen wir bessere Nachbarschaftsbeziehungen, wir müssen die Sprache beherrschen.

STANDARD: Sie selbst sind mit der Aziziye-Moschee aufgewachsen, die der Islamischen Föderation (= Millî Görüs) nahesteht.

Vural: Die ist nach einer Moschee in der Türkei benannt, sozusagen aus Heimatverbundenheit. Aber das ist, was ich vermitteln möchte: Die erste Generation hat sich gefragt: Bleiben wir hier, wann gehen wir wieder zurück? Ich möchte dieses Kapitel unserer Geschichte abschließen und eine neue Ära beginnen, denn wir sind Österreicher, wir sind hier angekommen. Das bedeutet nicht, dass man keine Bindung zum Herkunftsland hat, wo auch Familie ist, aber ich stehe zu diesem Land, zu Österreich, dazu, dass es meine Heimat ist, meine Gemeinschaft.

STANDARD: Aber es gibt nicht wenige Bürger, die Angst vor Muslimen haben und meinen, sie würden islamisiert.

Vural: Ich finde, dass der Islam und die Muslime es nicht verdient haben, als das ewig Fremde in Österreich gesehen zu werden. Der Islam ist eine einheimische Religion. Man möchte nicht wahrnehmen, dass die Muslime Teil des Landes sind. Ich weiß, dass ich da sehr viel zu tun habe, aber es wird uns etwas gelingen.

STANDARD: Gehört das Kopftuchverbot zu den Problemen?

Vural: Zum Beispiel. Es geht nicht primär darum, dass die Glaubensgemeinschaft oder ich wünschen, dass Kinder Kopftuch tragen. Es geht darum, dass wir gleich behandelt werden.

STANDARD: Wir leben nebeneinander her. Ich kenne kaum Leute, die mit Muslimen privat Kontakt haben. Am Arbeitsplatz arrangiert man sich, aber sonst lautet der Vorwurf vor allem gegenüber der türkischen Gemeinde: Ihr schließt euch ab.

Vural: In den letzten Jahrzehnten hat es nicht so funktioniert, aber die erste Generation war davon geprägt, hauptsächlich zu arbeiten. Die Kinder und Kindeskinder haben nicht diese Motivation wie ihre Eltern. Sie nehmen die schlechte Stimmung auf. Ich habe vor zwei Wochen eine Lehrerin mit Kopftuch getroffen, die sagt, sie halte es nicht aus. Auch ich habe türkisches TV geschaut, und es ist mir gelungen, in Österreich anzukommen.

STANDARD: Im Koran steht nichts vom Kopftuch.

Vural: Jetzt führen wir gleich eine theologische Fachdiskussion. Wir haben, das kann ich Ihnen auch sagen, eigene theologische Fachleute, denn ich will nicht, dass von Saudi-Arabien oder der Türkei Fatwas (von muslimischen Autoritäten auf Anfrage erteilte Rechtsauskünfte, Anm.) erstellt werden. Dieser Rat hat beschieden, dass das Kopftuch eine Glaubenspraxis ist, aber wir treten für das Selbstbestimmungsrecht der Frau ein. Das ist kein Gebot, sondern eher ein Angebot.

STANDARD: Kennen Sie das Buch jener Schuldirektorin, die schreibt, dass die islamischen Burschen den Mädchen allerhand vorschreiben möchten? Macht die Glaubensgemeinschaft da etwas?

Vural: Wir erreichen vor allem die Eltern und die Menschen in den Moscheen, um ihnen zu sagen, dass das nicht der islamische Weg ist.

STANDARD: Ihre Familie kommt aus dem zentralanatolischen Yozgat, wie viele Immigranten aus der Türkei. Sie sind Kurde. Wie sehen Sie den Krieg der Türkei gegen die Kurden in Syrien?

Vural: Ich bin nicht in der Lage, internationale Konflikte zu kommentieren. Wir sind aber gegen Krieg.

STANDARD: Türkische Jugendliche haben hier kürzlich mit brutalen Sprüchen gegen Kurden demonstriert.

Vural: Ich habe mit den Geschwistern in der türkischen Kultusgemeinde gesprochen, die lehnen das ab.

STANDARD: Sie deuten an: Wir lassen uns vom Ausland nichts sagen, das heißt von Saudi-Arabien und der Türkei.

Vural: Ich habe von Anfang an gesagt, wir leben in Österreich. Daher wollen wir dem Islam in Österreich ein österreichisches und ein europäisches Gesicht geben.

STANDARD: Gibt es Moscheen, in denen auf Deutsch gepredigt wird?

Vural: Gibt es, aber es ist nicht die Mehrheit. Aber die Moscheen werden multiethnischer, und wenn das so ist, dann muss der Imam die deutsche Sprache beherrschen. Eines Tages werden wir nur mehr Deutsch sprechen.

STANDARD: Sie sagen "Geschwister", wenn Sie von den anderen Muslimen sprechen. Früher hat man nur "Brüder" gesagt, oder?

Vural: Das zeigt auch meine Einstellung, weil ich möchte auch den Schwestern viel mehr Möglichkeiten geben, sich einzubringen. (Hans Rauscher, 15.11.2019)