"Wir können offenbar alles, wenn Gefahr droht, das haben wir jetzt gelernt", nimmt Ferdinand von Schirach die einschneidenden Corona-Maßnahmen als positives Indiz.

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Jede Krise, die etwas auf sich hält, braucht eigene Begriffe. Auf die Gesundheitskrise, die das Coronavirus ausgelöst hat, haben nahezu alle Staaten mit verschiedenen Formen von "Lockdown" oder "Herunterfahren" reagiert. Was aber, wenn das Aufschließen und das Hinauffahren die Krise wieder stärker werden lassen?

Alexander Kluge hat dafür auch schon einmal einen Begriff gewählt: Wir leben nun wohl für eine Weile mit einer eingebauten "Stotterbremse". Das Fahren auf Sicht, vielleicht sogar im Nebel zwischen Wissenschaft und Kontrollkommunikation, wird so schnell nicht wieder den Gasfuß finden, auf dem die ganze Welt bis vor kurzer Zeit noch stand.

Kluge ist ein Wörterfinder, und das ist auch seine Rolle in dem Dialog mit Ferdinand von Schirach, in dem sich die beiden Schriftsteller, die einiges mehr sind als das, über die Corona-Krise austauschen. Ende März war das, nun ist das Buch da: Trotzdem. Ein Schnellschuss, der aber als Flugblattschrift seine Berechtigung hat.

Zwei Weltweise

Vor drei Jahren haben Kluge und Schirach schon einmal ein solches Dialogbuch gemacht. Es hieß Die Herzlichkeit der Vernunft und rief gleich auf den ersten Seiten das größte Vorbild für diese Form auf: den griechischen Intellektuellen Sokrates, der allerdings eine besondere Form des Dialogs pflegte, denn er war eine Art Inspektor Columbo des Denkens, er stellte vor allem Fragen, und die Gesprächspartner sprachen dann oft die Wahrheit, ohne es gleich zu merken.

Bei Kluge und Schirach ist keiner Sokrates, weil dann der andere ja in die Rolle eines Unaufgeklärten rutschen würde. Es sind zwei Weltweise, die sich hier unterhalten. Schirach lässt deutlicher an seiner umfassenden Bildung teilhaben. Für Kluge hingegen war Wissen immer schon eher eine Energie, etwas, das man sprühen lässt.

Die Viren sind für ihn "Bruchstücke von Intelligenz", und er setzt diese Bruchstücke nicht so zusammen, dass danach ein Puzzle aus tausend Teilen einen ganzen Elefanten ergibt, von dem man sonst nur den Rüssel sehen würde. Kluge sucht nach einer (tröstenden) Erzählung, in die er diese Bruchstücke einfügen kann, und Schirach hilft ihm dabei, sie zu finden.

Montesquieu, Locke, Voltaire

Es ist die Erzählung von Europa, auf die das Virus in Trotzdem verweist. Es sind die "westlichen Werte", die "Abwehrrechte gegen den Staat", auf die das Gespräch hinausläuft. Bei beiden kommen die Überlegungen nicht zuletzt aus ihrer Ausbildung im Rechtswesen. Sie gehen deswegen vor dem Hintergrund von Corona noch einmal kursorisch die Grundlagen der Freiheitsordnung durch, die in Ländern wie Österreich oder Deutschland so selbstverständlich scheinen mochte: Es ist vor allem Schirach, der die großen Theoretiker der Reihe nach aufruft.

Montesquieu, Locke, Voltaire, Rousseau oder auch Casanova, der meint, in Venedig die Bleiplatten in dem Gefängnis schwanken zu sehen, in dem er sitzt. So stark wären die Auswirkungen des Erdbebens von Lissabon im Jahr 1755 gewesen.

Europa formierte sich aus Katastrophen, und nach der Katastrophe von Lissabon "taugte Gott als Baugrund nicht mehr", wie Schirach sagt. Die Menschen mussten auf ihrem eigenen Grund bauen, damit schlug eine Stunde der Vernunft. Lissabon wurde mit Sachverstand wieder aufgebaut. Die Aufklärung ist ihrerseits immer in Gefahr, sich zu absolut zu setzen, sie muss lernen, sich zwischen Abstraktion und Einfühlung immer in Bewegung zu halten.

Mitten in den Staats- und Gesellschaftstheorien dann plötzlich ein intimer Moment: Schirach, der Auswärtsesser, der schon zum Frühstücken ins Café geht, vergleicht dieses öffentliche Alleinsein des Schriftstellers mit einer Zeit in der Kindheit, als er im Bett lag, bei offener Tür zu den an deren Räumen des Hauses. Und Kluge erinnert sich daran, wie er als Kind von außen in das Haus seiner Eltern hineinschaute, fröstelnd und behaglich zugleich. "Da erzählt die Erinnerung sich selbst etwas."

Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge, "Trotzdem". 8,30 Euro / 80 S.
Luchterhand-Verlag, München 2020
Cover: Luchterhand

Es ist vor allem Schirach, der zum Ende hin eine Skizze wagt: Er legt die gegenwärtigen Erfahrungen auf die noch größeren Herausforderungen um, auf die Klimakrise. Dass eine ganze Zivilisation für ein paar Wochen so einschneidende Maßnahmen ergreifen kann wie zuletzt, nimmt Schirach als positives Indiz. "Wir können offenbar alles, wenn Gefahr droht, das haben wir jetzt gelernt."

Für die europäische Idee, die durch diese Krise "wankt", sieht er eine bessere Chance, wenn sie offensiv vertreten wird: "Wir könnten das Ruder herumreißen und uns endlich eine europäische Verfassung geben." Das müsste dann aber ein mutiges, utopisches Dokument sein und kein Stückwerk aus schlechten Kompromissen. In dieser Hinsicht könnte Europa tatsächlich von der Stotterbremse zum Gasfuß wechseln. Dann wäre die Zeit, in der wir "scheußliche Worte" (Schirach) wie "Durchseuchung" lernen mussten, auch eine Zeit großer Wörter, mit denen sich die Zivilisation neue Ziele setzt. (Bert Rebhandl, 16.5.2020)