Im Gastkommentar wünscht sich Bildungsexperte Karl Heinz Gruber, dass sich Bildungsminister Heinz Faßmann nicht mit einem Pflästerchen auf diesem Schlupfloch begnügt.

Bei der heurigen Deutsch-Zentralmatura wurden 30 Klausuren unbearbeitet abgegeben.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Welcher Teufel hat jene Maturanten geritten, die bei der heurigen schriftlichen Matura leere Blätter abgeliefert und sich darum gedrückt haben, sich selbst und der Allgemeinheit zu beweisen, was sie am Ende der Sekundarschule tatsächlich können?

Man kann das, wie es Hans Rauscher hier im STANDARD-Einserkastl getan hat, als pubertäre Aktion einer ganz kleinen Minderheit (etwa 40 der insgesamt 40.000 Prüflinge) abhaken. Man kann jedoch auch fragen, ob es sich hier nicht um die auf die Spitze getriebene Manifestation eines im österreichischen Schulwesen sehr viel weiter verbreiteten Phänomens handelt – die Unkultur des "Einfach nur Durchkommens".

Eh wurscht?

Manche dieser "coolen" Mindestleister haben angeblich auf den Prüfungsbogen bloß "Weil es eh wurscht ist" geschrieben. Sie bezogen sich damit anscheinend auf die heurige Corona-bedingte Regelung, dass die mündliche Matura ausfällt und die Maturanote gleichgewichtig aus den Noten des Abschlusszeugnisses des letzten Schuljahres und der schriftlichen Matura errechnet wird, sodass jemand, der im Jahresabschluss einen Dreier hat, selbst bei einem Fünfer auf die schriftliche Matura die "positive" Note Vier bekommt.

Von wegen "wurscht". In Österreich erhält man zwar tatsächlich selbst mit einem Maturazeugnis voller Vierer die allgemeine Studienberechtigung, aber diese genügsame Großzügigkeit weicht gravierend von der europaweiten Normalität ab. In den meisten Ländern ist der Hochschulzugang selektiv; um ein Wunschstudium absolvieren zu können, reicht es nicht aus, die formalen Mindestanforderungen zu erfüllen. Es gilt vielmehr der meritokratische Grundsatz: je besser das Maturazeugnis (oder sein Äquivalent), desto mächtiger ist es im Hinblick auf die Wahl der Universität und die Zulassung zum angestrebten Studienfach. Zugegeben, auch in Österreich wurde in den letzten Jahren die Zulassung zu vielen Studienrichtungen selektiv, und Vierer im Maturazeugnis wirken dabei eher nicht positiv.

Kein deutscher Abiturient käme auf die selbstschädigende Idee, bei der Abiturprüfung einen leeren Bogen abzugeben, sich dadurch den Notendurchschnitt zu verschlechtern und damit seine Chancen zu schmälern, an der Universität seiner Wahl das Fach seiner Wahl studieren zu können. Kein englischer Sixth-Former würde es wagen, die A-Level-Prüfung nicht ernst zu nehmen und zu erwarten, dass die nationale Studienzulassungsbehörde seine Chuzpe positiv anerkennt. Kein schwedischer Gymnasiast wäre so kurzsichtig und dumm, wegen eines Gags bei der Abschlussprüfung seinen Studienplatz aufs Spiel zu setzen.

Vorbild Deutschland

Natürlich hätte das Bildungsministerium von Anfang an das Schlupfloch für Minderleister in der Prüfungsverordnung vermeiden können, wenn es für jedes "Nicht genügend" bei der schriftlichen Matura eine mündliche Prüfung oder eine Wiederholung im Herbst vorgesehen hätte. Das hätte jegliche Wurschtigkeit vermutlich im Keim erstickt. Bei der Sanierung der Verordnung sollte sich Bildungsminister Heinz Faßmann allerdings nicht mit einem kleinkarierten Pflästerchen auf das Schlupfloch begnügen, sondern ernsthaft und gründlich am Innovationspotenzial dessen arbeiten, was heuer als Corona-bedingte Notlösung praktiziert wird: die Einbeziehung der Oberstufenleistungen in die Maturanoten. Dafür gibt es ein ausgezeichnetes Vorbild.

Wenn das Bildungsministerium nach den Turbulenzen des von der Corona-Krise gebeutelten Schuljahres das rettende, ruhige Ufer der Sommerferien erreicht hat, sollte eine ministerielle Taskforce endlich das tun, was Minister Faßmann schon mehrfach angekündigt hat, nämlich zu überlegen, was sich von der seit Jahrzehnten bewährten "Verordnung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe und der Abiturprüfung" der Deutschen Kultusministerkonferenz (KMK) lernen lässt.

Diese Verordnung enthält zwei für Österreich hochrelevante Praktiken: Erstens beruhen die Abiturnoten nicht allein auf der großen, rituellen Abiturprüfung, sondern ebenso auf den kumulierten Leistungen der letzten beiden Oberstufenjahre. Zweitens gibt es für deutsche Oberstufenschüler die Möglichkeit, manche Fächer als Grundkurse zu absolvieren, in denen es gilt, allgemeinbildende Mindeststandards zu erreichen, andere Fächer können als anspruchsvollere, studienorientierte Leistungskurse gewählt werden. Sich fragen zu müssen, welche Fächer den eigenen Interessen und Begabungen besonders entsprechen und diese als Leistungskurse zu wählen, schafft nicht nur günstige Voraussetzungen für einen hochmotivierten Unterricht; es ermöglicht die Formung eines persönlichen Bildungsprofils und ist ein nicht zu unterschätzender Anlass zur Selbstfindung und Reifung als Person.

Desavouiertes Lehrpersonal

Apropos Reife: Die österreichischen Maturaminimalisten haben mit ihrer Aktion eine bedenkliche Geringschätzung von Bildung demonstriert und nebenbei auch ihre Lehrerinnen und Lehrer desavouiert. Mit ihren problematischen Vierern mögen sie ein "Reifezeugnis" bekommen. Den Nachweis, dass sie "reif" für ein Studium und den Eintritt in die verantwortungsvolle Arbeitswelt sind, bleiben sie schuldig. (Karl Heinz Gruber, 3.6.2020)