"Blue Eyed"-Trainer Jürgen Schlicher manipuliert, diskriminiert und sorgt bei den Teilnehmern für Tränen, Frust und Einsicht.

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Psychiater Reinhard Haller, Esther Maria Kürmayr von der Schwarzen Frauen Community und Moderatorin Lisa Gadenstätter beobachten und kommentieren den Workshop von einem Nebenraum aus.

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Die Diskriminierung beginnt schon bei der Einschreibung. Trainer Jürgen Schlicher behandelt die Teilnehmer zuvorkommend oder unfreundlich, je nach Augenfarbe.

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Melanie trägt ihre Brille nicht. Sie ist eine von 23 Teilnehmern eines Sozialexperiments und soll ihren Namen in eine Liste einschreiben. Weil sie schlecht sieht, verwechselt sie die Zeilen. Harsch wird sie von Jürgen Schlicher für den "Fehler" gerügt, unfreundlich zurechtgewiesen, gedemütigt, zurück an das Ende der Menschenreihe geschickt.

Wer ist dieser Mann, der so mit Menschen umgehen darf? Schlicher ist Trainer, seit mehr als 20 Jahren beschäftigt er sich mit Themen wie Rassismus und Diskriminierung. Er führt Antirassismusworkshops in Unternehmen, bei Führungskräften oder etwa auch bei der Polizei durch. Und am Mittwoch im Hauptabend auch im ORF. Um 20.15 Uhr zeigt ORF 1 in Rahmen eines 80-minütigen Dok.1 Spezial (ab 0.25 Uhr in voller Länge) einen sogenannten Blue-Eyed-Workshop und will damit aufzeigen, wie Rassismus und Diskriminierung entstehen.

Entwickelt wurde der Workshop 1968 in den USA nach der Ermordung des Bürgerrechtlers Martin Luther King Jr. Damals wollte die Lehrerin Jane Elliott ihren Schülern erklären, wie es zu dem Mord kommen konnte, und begann, die Kinder in Blauäugige und Braunäugige zu teilen.

Ausgrenzen und spalten

Genau das passiert auch mit den Teilnehmern des Experiments im ORF. Die Blauäugigen werden von Beginn an diskriminiert, ihnen wird das Gefühl gegeben, schlechter als die anderen zu sein. Sie werden verhöhnt, bloßgestellt. Die Braunäugigen hingegen werden privilegiert und durch Schlichers Manipulation dazu gebracht, von sich selbst zu glauben, den Blauäugigen überlegen zu sein.

"Ich habe das Experiment vor einigen Jahren im Fernsehen gesehen und wollte es seitdem unbedingt für Österreich machen", sagt ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter. Gemeinsam mit dem Psychiater Reinhard Haller und der Antidiskriminierungsexpertin Esther Maria Kürmayr vom Verein Schwarze Frauen Community beobachtet und kommentiert sie das Geschehen aus einem Nebenraum. "Mich hat nicht mehr losgelassen, wie es ein einzelner Mensch durch geschickte Manipulation schafft, Menschen dazu zu bringen, andere schlechter zu behandeln oder als minderwertig zu sehen. Das Experiment zeigt, wie manipulierbar wir alle sind, ohne es zu merken. Und es zeigt auch auf, mit welchen Mitteln Populisten arbeiten, um an die Macht zu kommen oder an der Macht zu bleiben", sagt Gadenstätter dem STANDARD.

Die Teilnehmer wissen nicht, worum es geht. Nur, dass es sich um ein Sozialexperiment handelt. Vor dem Workshop wurden sie auf Corona getestet. Gadenstätter hofft, dass die Sendung dabei hilft, "zu verstehen, wie Diskriminierung entsteht, wie manipulierbar wir alle sind und vor allem was wir dagegen tun können".

Gadenstätter: "Ich habe, obwohl ich ja wusste, worum es geht, die Kraft dieses Workshops unterschätzt. Ein Moment, der mir die Augen geöffnet hat, war, als ich eigentlich mehr zu mir selbst als zu den Experten gesagt habe: 'Ich halte das fast nicht aus.‘ Da hat mich Esther Maria Kürmayr angelächelt und gesagt: 'Ich verstehe Sie, aber bitte halten Sie durch. Ich muss das seit 53 Jahren aushalten." Und: "Es betrifft uns alle. Es geht um Menschen mit Migrationshintergrund, um schwarze Menschen, um Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden, aufgrund einer Behinderung, aufgrund ihrer sexuellen Präferenz, aufgrund ihres Körpergewichts usw. Diskriminierung findet auf so vielen verschiedenen Ebenen statt. Und unsere Experten werden all das für die TV-Zusehenden erklären, analysieren und vor allem einordnen."

Workshop und Realität

Schon in den 1970er-Jahren wurde das Experiment verfilmt, 2014 lief es auf ZDF neo, zuvor im niederländischen Fernsehen. Kritiker sagen, dass diese Versuchsanordnung nicht das echte Leben widerspiegle, dass eine künstlich geschaffene Situation wenig mit der Realität zu tun habe. "Man kann die Workshop-Situation sehr wohl aufs Alltagsleben umlegen, weil wir in unserem Alltag immer wieder Situationen erleben, die wir auch im Workshop sehen. Zum Beispiel die Frage: wann greife ich ein? Greife ich überhaupt ein oder schau ich mir das alles aus der zweiten Reihe an. Aufs Alltagsleben umgelegt kann man zum Beispiel das Bild einer Bushaltestelle hernehmen. Wie verhalte ich mich, wenn ich sehe, dass eine Person angefeindet wird. Helfe ich oder lauf ich lieber zum Bus, weil er mir sonst vor der Nase davonfährt", sagt Gadenstätter.

Auch die institutionalisierte Diskriminierung werde in dem Workshop deutlich, "das sagt auch unsere Expertin Esther Maria Kürmayr. Allein schon in der Frage, wie die Menschen zueinander sitzen und warum. Oder: die Einschreibung. Warum funktioniert die Einteilung ganz zu Beginn in Blau- und Braunäugig so gut. Weil wir es kennen, weil Einteilungen nach optischen Kriterien institutionalisiert ist. Das passiert auf jedem Flughafen. Oder im Amt. Oder in der Schule."

Am Ende sind viele Teilnehmer schockiert über ihr eigenes Verhalten, darüber, wie sehr sie sich manipulieren lassen haben. Ein schmerzhafter, aber lehrreicher Prozess, nicht nur für die Blau-, sondern auch für die Braunäugigen. (Astrid Ebenführer, 28.10.2020)