Ein FGM-Werkzeug, wie es etwa in Uganda verwendet wird, um die Klitoris bzw. auch die Schamlippen wegzuschneiden.

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Nomawethu Kelbitsch kann sich noch gut an die erste von FGM betroffene Frau erinnern, die sich an sie gewandt hat. Die Krankenschwester, Hebamme und Psychotherapeutin engagiert sich in Graz seit Jahren für Frauen – oft mit Migrationshintergrund –, die nicht versichert sind. Im Jahr 2002 betreute sie eine junge Frau aus Togo, die oft unter Harnwegsinfektionen und schlimmen Menstruationsschmerzen litt. Bei einer Untersuchung in der Marienambulanz der Caritas wurde klar, dass an der Frau eine Female Genital Mutilation (FGM) des Typs drei durchgeführt wurde – das bedeutet, dass das komplette äußere Genital entfernt wurde. Es blieb nur eine kleine Öffnung für Urin und Menstruationsblut.

"Die Frau fragte mich, ob ich ihr erklären könnte, wie ein unbeschnittener Frauenkörper aussieht", erzählt Kelbitsch im Gespräch mit dem STANDARD. Vielen sei nicht bewusst, dass es solche Frauen überhaupt gibt. Anhand von Bildern und anatomischen Modellen erklärte Kelbitsch schließlich das Aussehen und die Funktion des intakten weiblichen Geschlechtsorgans.

Mittlerweile hat Kelbitsch in Zusammenarbeit mit Ärztinnen hunderte Betroffene betreut. Bei Kinderwunsch, nach Schwangerschaften oder bei Schmerzen im Intimbereich suchen die Frauen Hilfe: "Ich spreche FGM sehr offen an und warte nicht darauf, ob mir die Frauen davon erzählen. Denn sind sie selbst nicht betroffen, können sie anderen Frauen die Informationen weitergeben", erzählt Kelbitsch.

Millionen Betroffene

Am 6. Februar ist der Internationale Tag gegen FGM, der auf diese brutale Tradition, die vor allem in Ost- und Westafrika gelebt wird, aufmerksam macht. Alle zehn Sekunden werden die Genitalien eines Mädchens unter zwölf Jahren verstümmelt, so die Unicef. Zehn Prozent der Mädchen verbluten. Drei Millionen Mädchen sind in Gefahr, Opfer von FGM zu werden, weltweit sind 200 Millionen Mädchen und Frauen betroffen.

Bereits im Juni haben die Vereinten Nationen Befürchtungen geäußert, dass wegen der Coronavirus-Pandemie zusätzliche zwei Millionen Mädchen von FGM betroffen sein könnten. Steigende Zahlen wurden der NGO "Orchid Project" zufolge bereits aus Ost- und Westafrika gemeldet. Medizinische Kapazitäten konzentrieren sich auf Covid-19, die Bemühungen, die Praxis zu beenden, geraten in den Hintergrund. Lockdowns wären zudem eine Möglichkeit, Genitalverstümmelungen unbemerkt durchführen zu können – und sie würden wichtige Aufklärungsarbeit von NGOs verhindern. Betroffene bleiben sich immer mehr selbst überlassen.

Schulen, Kirchen oder andere Einrichtungen, in denen Mädchen sonst oft Schutz vor FGM gesucht haben, mussten in der Pandemie schließen. Kliniken und Praxen, die Betroffene nach dem Eingriff medizinisch versorgen konnten, mussten ihre Kapazitäten auf Corona-Patientinnen und -Patienten umstellen.

Gesellschaftlicher Druck

Die Medizinanthropologin Doris Burtscher bevorzugt die Bezeichnung FGC statt FGM – also Female Genital Cutting und nicht Mutilation. Denn der Ausdruck Mutilation, zu deutsch Verstümmelung, würde die betroffenen Frauen bereits abstempeln, verurteilen, so Burtscher. Eine gute deutsche Übersetzung gebe es aber nicht. Burtscher untersucht kulturelle Wahrnehmungen von Gesundheit und Krankheit weltweit vor Ort und ist für Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) tätig. Zum Thema FGM war sie im Tschad, damit konfrontiert war sie aber unter anderem auch bei Einsätzen in Sierra Leone und Mauretanien. Laut ihren Ergebnissen und Erfahrungen ist die Beschneidung kulturell und nicht religiös begründet.

Viele Frauen wollen ihren Töchtern die Qual des Eingriffs ersparen, haben aber Angst, dass ihre Kinder aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, nicht heiraten können, erzählt Burtscher im Gespräch mit dem STANDARD. Als Grund für FGM werden auch medizinische oder ästhetische Kriterien ins Treffen geführt: So würde es jucken, wenn die Klitoris nicht entfernt würde, oder es sehe einfach nicht so schön aus. Auch Mythen wie der Irrglaube, dass die Klitoris weiterwachse und dann wie ein Penis aussehe, halten sich weiterhin in den Gemeinschaften.

Kontrolle der Frauen

Was Burtscher bei ihrer Forschung unter anderem überrascht hat, war, dass die Mädchen sich teilweise auf das Ereignis gefreut haben. Sie hätten auch oft nicht gewusst, was auf sie zukommt, mit welchen Qualen der Eingriff verbunden ist. Aber in Gesellschaften, in denen die Frauen sonst nie im Vordergrund stehen, ist diese Tradition – verbunden mit einem Fest und immer wieder auch mit Geschenken – oft der einzige Moment im Leben der Frauen, in dem es um sie geht.

"Damit wird auch oft versucht, die Frauen zu kontrollieren", sagt Burtscher. Man nimmt ihnen damit die sexuelle Lust, macht sie gefügiger. Zur Frage, wie FGM – gegen die Ärzte ohne Grenzen entschieden eintritt und für deren Durchführung die Organisation auf Anfrage auch keine sauberen Instrumente zur Verfügung stellt – einzudämmen sei, nennt Burtscher mehrere Ansätze: Zum einen dürfte das Problem nicht "medikalisiert" werden, wie sie es nennt – denn dann würde der Eingriff einfach ins Krankenhaus verlagert und nicht – wie angestrebt – vollkommen abgeschafft werden. Zum anderen könnte der Ritus, aus einem Mädchen eine Frau zu machen und dies zu feiern, trotzdem durchgeführt werden, nur eben ohne FGM.

Aufklärung der Gesellschaft

Als gute Vorgehensweise nennt Burtscher die Arbeit der senegalesischen Organisation "Tostan", die auf Workshops in den Dorfgemeinschaften setzt und große Erfolge verbuchen konnte. So werden zuerst den Frauen Details zu ihrem Körper vermittelt: Wie funktioniert ein Orgasmus, wie entsteht Lust und warum ist das für die Fortpflanzung und den Geburtsvorgang vorteilhaft? Dann werden den Männern die Vorteile nähergebracht. Oft haben sich die Gemeinschaften schließlich gemeinsam mit den Dorfältesten und religiösen Führern dazu entschlossen, FGM abzuschaffen. Ein wichtiges Signal, wie Burtscher sagt, um Einfluss auf die bestehenden Konventionen zu nehmen.

In Sachen Prävention setzt Kelbitsch in Graz vor allem darauf, das Selbstbewusstsein der Frauen zu stärken. Den sensiblen Umgang mit dem Thema zieht sie der Androhung von Strafen in Österreich vor: "Oft machen die Frauen dann zu und erzählen gar nicht mehr davon." Um der Praxis ein Ende zu setzen, könnten laut Kelbitsch vor allem Hebammen, Frauen- und Kinderärzte eine starke Rolle bei der Aufklärung spielen: auch in Hinsicht auf die Männer. (Bianca Blei, Noura Maan, 6.2.2021)