Integrationsministerin Susanne Raab und Innenminister Karl Nehammer haben sich wortgleich bei Asylzahlen "versprochen".

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Das Archiv, so sagte einst der verstorbene "ZiB 2"-Moderator Robert Hochner, sei die Rache der Journalisten an den Politikern.

Zwar nicht gegenüber der schreibenden Zunft, sondern gegenüber den Neos als Oppositionspartei sowie Flüchtlingshelferinnen und -helfern musste nun Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) zugeben, dass bei seinen Angaben über Kinder, die um Asyl ansuchen, einiges nicht gestimmt hat – wie ein Blick ins Archiv des Ministeriums enthüllte.

Als vor Weihnachten letztes Jahres Bilder des völlig desolaten Flüchtlingslagers auf der griechischen Insel Lesbos um die Welt gingen, als sich hunderte Österreicherinnen und Österreicher bereiterklärten, Kinder aufzunehmen, kam die ÖVP mit ihrem strikten Nein zu einer Versorgung von Kindern in Österreich schwer unter Druck. Auch in der ÖVP wurde zunehmend Unverständnis über die harte Linie des Kanzlers Sebastian Kurz laut.

Nehammer rückte aus, verteidigte die Linie der ÖVP und sagte in ein ORF-Mikrofon: "Ich muss darauf hinweisen, dass Österreich allein in diesem Jahr 5.000, ich wiederhole die Zahl, 5.000, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen Schutz gewährt hat." Wenig später sprang auch ÖVP-Integrationsministerin Susanne Raab bei: "Eines möchte ich noch sagen, weil das kommt immer zu kurz. Man tut gerade so, als dass Österreich hier im Land nichts leistet. Wir haben 5.000 unbegleitete Minderjährige nur in diesem Jahr in Österreich aufgenommen."

Die Neos wollten es genau wissen und stellten eine diesbezügliche parlamentarische Anfrage an den Innenminister. Die jetzt vorliegende Beantwortung hat es in sich: Im Jahr 2020 wurde zwar 5.730 Minderjährigen in Österreich rechtskräftig ein Schutzstatus zuerkannt. Davon waren allerdings 5.544 begleitete Minderjährige, kamen also mit Mutter oder Vater, anderen Angehörigen oder im Rahmen der Familienzusammenführung ins Land.

3.000 Kinder hier geboren

Weit mehr als 3.000 Kinder wurden in Österreich geboren, sind also schon länger im Land – was etwa in den USA dazu führen würde, dass sie automatisch die US-Staatsbürgerschaft erhalten. 700 von ihnen kamen im Rahmen der Familienzusammenführung nach Österreich; Anträge von Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten, ihre engsten Angehörigen nachzuholen, gab es im Jahr 2020 übrigens 1.300.

Unbegleitet hingegen kamen im Jahr 2020 nur 186 unter 18-Jährige nach Österreich und stellten hier einen Asylantrag. Neos-Abgeordnete Stefanie Krisper, die die Anfrage eingebracht hatte, spricht von einer "zutiefst unseriösen, moralisch verwerflichen" Politik, wenn die ÖVP mit nachweislich falschen Zahlen hantiert". Mit der "Zahlentrickserei" habe die ÖVP vor Weihnachten versucht, "sich als christlich-soziale Partei zu inszenieren".

Der Vizeklubchef der SPÖ, Jörg Leichtfried, meint jetzt nach Vorliegen der tatsächlichen Zahlen: "Das geht gar nicht. Es ist halt so, wenn die Show beendet wird, sieht man, dass darunter keine Substanz ist. Da hilft auch die Unwahrheit nicht."

"Höchst überrascht" über das Ausmaß der Zahlenabweichung zwischen den Politikeraussagen und der Realität ist auch Herbert Langthaler von der österreichischen Asylkoordination. Ihn ärgert darüber hinaus der Umstand, dass es des langwierigen Prozederes einer parlamentarischen Anfrage bedarf, um derartige Diskrepanzen aufzuklären.

Datentransparenz gefordert

Hier zieht Langthaler eine Linie zu einem Vorhaben, das bis dato nicht mit dem Asylthema in Verbindung gebracht wurde: das Transparenzgesetz. Gerade im Flüchtlingswesen würden eifrig Daten erhoben, doch das Innen- und andere Ministerien würden sie vielfach unter Verschluss halten, sagt Langthaler.

So wisse man etwa aus Tirol, dass es dort in der Grundversorgung klaren Aufschluss darüber gebe, wie lange jeder und jede Asylsuchende bereits im Verfahren stehe. Herausgegeben würden diese Daten im Rahmen der offiziellen Asylstatistiken aber nicht: "Hier begnügt man sich seit Jahr und Tag mit der durchschnittlichen Verfahrensdauer von sechs Monaten" – mit dem Vorteil für die Verantwortungsträger, dass die Öffentlichkeit nichts über Ausreißer nach oben wisse. Tatsächlich dauerten manche Schutzverfahren viele Jahre lang.

Nehammer kleinlaut

Innenminister Karl Nehammer zeigte sich am Mittwoch eher kleinlaut und ließ über sein Büro lediglich verlauten, er habe sich damals "versprochen". Er habe nicht unbegleitete Minderjährige gemeint, sondern allgemein 5.000 "Minderjährige". Das sei wenig später in einer APA-Meldung korrekt dargestellt worden. Es seien "zu keinem Zeitpunkt falsche Zahlen genannt worden". Zudem liege Österreich bei den Asylanträgen unbegleiteter Minderjähriger sogar an zweiter Stelle in der EU.

Es sei natürlich ein Fehler passiert, gibt man auch im Büro der Integrationsministerin Susanne Raab zu. "Fakt ist, dass Österreich im letzten Jahr 5.730 Minderjährigen Schutz gewährt hat. Bei der Bezeichnung 'unbegleitete Minderjährige' sei es eben "zu einem Versprecher" gekommen". (Irene Brickner, Walter Müller, 17.3.2021)