Politologe Jan-Werner Müller schreibt in seinem Gastkommentar über die frauenfeindliche Ideologie der extremen Rechten und die Strategie dahinter.

Ein düsterer Jahrestag ging letzten Monat nicht unbemerkt vorüber. Am 22. Juli gedachten Kommentatoren in aller Welt der 77 Opfer des Rechtsterroristen, der vor zehn Jahren in der Osloer Innenstadt vor dem Büro des Ministerpräsidenten eine Bombe zündete und dann Jugendliche ermordete, die an einem Sommercamp der sozialdemokratischen Partei auf der Insel Utøya teilnahmen.

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Sturm aufs Kapitol in Washington Anfang Jänner: Der Großteil der Gewalt ging von Männern aus und richtete sich gegen prominente Frauen wie Nancy Pelosi, Sprecherin des Repräsentantenhauses.
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Die meisten dieser Analysen versuchten sich diesem Horror über den "eng miteinander verwobenen Hass des Täters gegen Muslime und die Sozialdemokratie" anzunähern. Auffällig abwesend war die offensichtliche Frauenfeindlichkeit des Mörders.

Nach mehr als einem Jahrzehnt, in dem der Rechtsextremismus weltweit erneut erstarkt ist, unterschätzen wir immer noch die Rolle des Geschlechts – und insbesondere der Verteidigung des Patriarchats – als Brücke zwischen Extremisten und gemäßigten Konservativen, die immer häufiger zu einer Zusammenarbeit mit ihnen bereit sind.

Wer sich die Mühe macht, die Hetzschriften im Zusammenhang mit dem Massenmord von Utøya und dem Terroranschlag auf Muslime im neuseeländischen Christchurch von 2019 miteinander zu vergleichen, entdeckt frappierende Ähnlichkeiten. Und viele Parallelen zwischen diesen Machwerken und den offiziellen Parteiprogrammen rechtspopulistischer Parteien.

Offene Bewunderung

Immerhin behaupten rechtsextreme Politiker schon seit Jahrzehnten, "sie" würden uns "unser Land" wegnehmen. In dieser Vorstellung ist "unser Land" eine weiße christliche Nation, die immer stärker durch den Islam bedroht wird. Und weil angeblich immer mehr Muslime einwandern und auch mehr Kinder bekommen, "verdrängen" sie die rechtmäßige Bevölkerung des "Vaterlandes". Neben diesen völkischen Verschwörungstheorien über den "großen Austausch" findet man aber auch offene Bewunderung für die traditionelle Männlichkeit, die angeblich vom Islam befördert wird. Auch deshalb forderten weiße Rassisten während ihres tödlichen Aufmarschs in Charlottesville 2017 eine "weiße Scharia jetzt!".

Letzten Endes ist das echte Problem vieler Rechtsextremer der Liberalismus und insbesondere die Befreiung der Frau von den Gesetzen und sozialen Normen, auf denen die männliche Vorherrschaft beruht. In den Augen seiner Feinde bedeutet Liberalismus nicht nur Offenheit (oder zumindest Durchlässigkeit) und Flexibilität; er macht ihnen Angst, weil traditionelle Autoritäten und besonders die patriarchalische Autorität, über den Körper von Frauen zu bestimmen, infrage gestellt werden.

Der Täter des 22. Juli jedenfalls ließ keinen Zweifel an seinem Wunsch, das Patriarchat wiederherzustellen. In seiner idealen Welt werden Frauen streng kontrolliert, um die Reproduktion des weißen christlichen Volkes zu gewährleisten. Er beschreibt im Detail, wie das gelingen kann: Durch die Rückkehr in die 1950er-Jahre, in denen Männer das Sagen haben und Frauen gehorchen; oder mit einem System, in dem Leihmütter in ärmeren Ländern (äußerst spärlich) für das Austragen europäischer Babys bezahlt werden; oder durch die Entwicklung einer künstlichen Gebärmutter, die Frauen vollends überflüssig macht.

Feindseliger Sexismus

Wie kluge Analysten bemerkt haben, schwankt die extreme Rechte zwischen wohlwollendem und feindseligem Sexismus: Frauen sind entweder schwache Wesen, die Schutz brauchen, oder tückische Aggressorinnen, die die westlichen Nationalstaaten im Namen der Gleichstellung zerstören. Letztere Variante macht Männer zu Opfern und ermöglicht es denjenigen, die sich dem Terrorismus zuwenden, ihre Gewalt als Gegenwehr zu verbrämen. Als "Opfer" haben sie das Recht, auf die Aggression der anderen zu reagieren und den Feind letzten Endes auszulöschen.

Dieselbe Logik war auch beim Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner dieses Jahres zu erkennen, bei dem der Großteil der Gewalt von Männern ausging und sich gegen prominente Frauen wie die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, richtete (deren Büro geplündert wurde).

Die rechtsextreme norwegische Fortschrittspartei versucht mit allen Mitteln, Hinweise auf die Mitgliedschaft des Mörders von Utøya in ihrer Jugendorganisation als zynische Instrumentalisierung der Gewalt abzustempeln. Und die Republikaner beschuldigen jeden, der über den 6. Jänner die Wahrheit sagt, der "politischen Ränkeschmiede".

Weltweit profitiert die extreme Rechte von der massiven materiellen und finanziellen Unterstützung für alle, die den "Schutz der Familie" propagieren. Gleichzeitig versuchen rechte Populisten, sich für gemäßigte Konservative akzeptabel zu machen, indem sie eine dem Anschein nach gemeinsame soziale Agenda betonen. Es ist kein Geheimnis, warum sie das tun: Sie kommen nur dann an die Macht, wenn etablierte Mitte-rechts orientierte Kräfte mit ihnen zusammenarbeiten.

Eng verwoben

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán spielt dieses Spiel schon lange und umwirbt Parteien rechts der Mitte mit dem Argument, sein autokratisches und kleptokratisches Regime sei die wahre Form der Christdemokratie. Dementsprechend lehnt seine Regierung die gleichgeschlechtliche Ehe vehement ab und tut alles, um Homosexualität in die Nähe von Pädophilie zu rücken. Im aktuellen Anti-LGBTQ-Gesetz macht Orbán nur allzu deutlich, dass sein wahres Ziel nicht die Treue zum Naturrecht oder einer angenommenen "natürlichen Ordnung" ist, sondern die Aufstachelung zum Hass gegen Minderheiten.

Wir müssen erkennen, dass die ideologische und emotionale Anziehung der extremen Rechten sich nicht auf ein einzelnes Element wie den Hass auf den Islam reduzieren lässt. Auch wenn rechtsextreme Parteien ihr jeweils liebstes Hassobjekt recht flexibel wechseln können, bleiben in ihrer Ideologie ein weißer christlicher Rassismus, Frauenhass und ein militanter Antiliberalismus eng verwoben. Diese Mischung, egal in welcher Form oder Farbe, sollte für anständige Parteien der gemäßigten Rechten inakzeptabel sein. (Jan-Werner Müller, Copyright: Project Syndicate, 6.8.2021,)