Auf dem Yppenplatz in Wien-Ottakring wird mitgezählt. Das feministische Kunst-Kollektiv Kimäre hält das Graffito aktuell.

Foto: Robert Newald

Österreich hat ein Problem. Und zwar mit Frauenmorden. 17 Frauen oder Mädchen starben heuer mutmaßlich durch fremde Hand – bis heute. So viele waren es 2015 im ganzen Jahr. Die Fälle, um die es geht, sind vielfältig, sie reichen vom alten Ehepaar, in dem erst die Partnerin getötet wird und sich danach der Partner selbst umbringt, bis hin zu besonders aufsehenerregenden Fällen wie jenem von Nadine, einer Trafikantin, die angezündet wurde, oder von Leonie, einem jungen Mädchen, das mutmaßlich von mehreren Männern unter Drogen gesetzt und vergewaltigt wurde und in der Folge starb.

Was sie eint, ist, dass jeder der Fälle ein Anstoß ist, der die Debatte über Femizide weiter ins Rollen bringt und mit dem das Thema Gewalt gegen Frauen in die Öffentlichkeit gelangt. Allein schon, dass sich der Begriff Femizid etabliert, zeigt das – wurde er einst eher im wissenschaftlichen Kontext verwendet, ist er mittlerweile fester Bestandteil des medialen Sprachgebrauchs.

Wenn eine Tötung als Femizid bezeichnet wird, bedeutet das, dass das Opfer mit hoher Wahrscheinlichkeit noch am Leben wäre, wenn es keine Frau gewesen wäre. In vielen Fällen sind in den späteren Einvernahmen mit den mutmaßlichen Tätern Rechtfertigungen zu hören – die es für solche Taten natürlich nie gibt. Etwa aus drei Fällen von diesem Jahr: Sie wollte mich loswerden. Oder: Sie ist selber schuld, sie wollte ja mitkommen. Oder: Sie hat mich jahrelang kritisiert.

Was man aus den Einvernahmen auch weiß: Oft gab es schon Gewalt und Aggressionen. Nicht immer erlangten Polizei oder andere Einrichtungen davon Kenntnis. In anderen Fällen waren die Männer amtsbekannt, wurden bereits weggewiesen oder angezeigt. Was kann, was muss also unternommen werden, um das zu ändern?

Die Einschätzung: Wenn Angst nicht genug ist

Erst vor wenigen Tagen erregte ein Fall in ganz Österreich Aufmerksamkeit: Drei Polizeibeamte wurden in eine Wohnung in Wien gerufen, eine Frau hatte ihrem Mann die Schlüssel abgenommen, er wollte sie zurück. Vor Ort – das belegt ein Tonband, das dem STANDARD vorliegt – schilderte die Frau der Polizei, dass sie Angst vor dem Mann habe, weil er trinke, aggressiv sei. Doch die Polizei ging nicht nur darauf nicht ein, sie schrie die Frau sogar an und zeigte sie obendrein an, weil sie Beamte angeschrien haben soll.

Nun liegt der Fall beim Bundesamt zur Korruptionsprävention – es ist auch für Amtsmissbrauchsdelikte zuständig –, dort wird die Rolle der Beamten geprüft, im Falle eines vermuteten Verschuldens drohen ein Strafverfahren auf der einen und ein Disziplinarverfahren auf der anderen Seite. Wobei sich das erfahrungsgemäß zieht: Ein Disziplinarverfahren wird erst dann eingeleitet, wenn ein etwaiges Strafverfahren abgeschlossen ist. Die drei Beamten sind derweil weiterhin im Dienst.

Das Werkzeug: Ausbildung, Erfahrung, Tools

Beamtinnen und Beamte müssen, wenn sie wegen Gewalt in der Privatsphäre – "Gip", wie das Delikt intern abgekürzt wird – gerufen werden, binnen kurzer Zeit eine umfassende Gefahrenanalyse durchführen: Was ist tatsächlich passiert? Wer ist Opfer, wer ist Täter? Gibt es schützenswerte Personen im Haushalt? Könnte weitere Gewalt drohen? Alle Polizistinnen und Polizisten werden im Zuge der Grundausbildung und bei Fortbildungen zu dem Thema geschult. "Es handelt sich dennoch bei jedem Einsatz um eine individuelle Situation", sagt Christopher Verhnjak, Pressesprecher der Wiener Polizei. Dabei würden nicht nur die vor Ort zur Verfügung stehenden Informationen in Verbindung mit dienstlichen Wahrnehmungen zählen, sondern auch bisherige Erfahrungswerte einfließen.

Und die gibt es bei diesem Thema zur Genüge: Während letztes Jahr in Wien 6300 Einsätze zum Thema "Gewalt in der Privatsphäre" von der Landesleitzentrale an die Bezirkskräfte vergeben wurden, waren es allein in diesem Jahr bereits 5200 Einsätze mit diesem Bezug. Da der Einsatzgrund nach Erstinformationen am Notruf vergeben wird, und es oftmals starke Abweichungen zum tatsächlichen Einsatz geben kann, müsse man diese Zahlen aber relativ betrachten, sagt Verhnjak. Eine andere Zahl ist sicher: 2020 kamen die Beamten bei 3000 Personen in ihrer Gefahrenanalyse zu der Einschätzung, dass ein zukünftiger gefährlicher Angriff zu befürchten ist, und sprachen deswegen ein Betretungs- und Annäherungsverbot aus. Das sind etwas mehr als acht Gefährder jeden Tag in Wien. Und genau diese Fälle, meint Gewaltforscherin Birgitt Haller, sollten auf den Polizeiinspektionen immer und immer wieder durchgesprochen werden: "Dann kann man eine Fehleranalyse machen, daran erinnern, was wichtig ist, das Wissen auffrischen." Nur so könnten Betretungsverbote zur Polizeiroutine werden.

Seit Juli gibt es nun zusätzlich einen rund um die Uhr besetzten Journaldienst, den sogenannten Gip-Support. Hier sitzen besonders geschulte und erfahrene Präventionsbeamte – auch ihre Zahl soll künftig steigen –, die von den Bezirkskräften kontaktiert werden können. Um den Beamten vor Ort die bestmögliche Handlungssicherheit zu geben, greifen diese nicht nur auf ihre Expertise, sondern auch auf ein computergestütztes Analysetool zurück.

Die Analyse: Was untersucht werden sollte

Dass diese international schon länger eingesetzten Werkzeuge nun auch hierzulande angewendet werden, ist laut Isabel Haider vom Institut für Strafrecht und Kriminologie an der Uni Wien ein wichtiger Schritt. In ihrer Forschung widmet sie sich verschiedensten Fragen, etwa ob der Geschlechtsbezug von der Polizei und der Strafverfolgung bewusst beachtet wird oder ob er unbewusst negativ in die Ermittlungen einfließt. Sie untersucht auch, ob Frauenmorde als eigenes gefährliches Kriminalitätsphänomen in Statistiken und Analysen behandelt werden oder als voneinander unabhängige Einzelfälle. Haider interessiert sich außerdem dafür, ob der Geschlechtsbezug und der Gender-Aspekt ernst genommen oder vermeintliche Ursachen bei den individuellen Tätern als Probleme in den jeweiligen Beziehungen oder als kulturell oder ausländisch bedingt abgetan werden.

Die kurze Antwort auf all diese Fragen: Es gibt Luft nach oben. So muss Haider für ihre Arbeit überhaupt erst die Fälle mit weiblichen Mordopfern herausfiltern, da es noch keine Erfassung des Opfergeschlechts gibt, was extrem aufwendig sei. Haider zufolge sollten geschlechtsbezogene Aspekte der Kriminalität stärker untersucht und Motive ermittelt werden, nicht nur bei Gewalt durch Fremde. "In Beziehungstaten ist es oft schwierig, einzugrenzen, ob es um Frauenhass geht", merkt die Juristin an. Es müsse genau hingesehen werden und auf internationale Forschungsergebnisse diesbezüglich zurückgegriffen werden. Stattdessen herrsche aber "Konzeptlosigkeit und eine mangelnde Gesamtstrategie". Das Problem dabei: "Betrachtet man Mordkriminalität ohne ausreichende Expertise zu Genderthemen, kann dies dazu führen, dass Aufklärung und Prävention nicht optimal aufeinander zugeschnitten sind."

Warum Anzeigen ausbleiben: Scham, Liebe, Angst

Neben den Maßnahmen gegen den Gefährder entscheiden die Beamten vor Ort auch über Maßnahmen für die Opfer – etwa ob eine polizeiliche Bestreifung des Wohngebiets notwendig ist oder ob es einen persönlichen Ansprechpartner bei der Polizei braucht. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Hilfe auch in Anspruch genommen wird. "Sollte ein Opfer, aus welchen Gründen auch immer, das nicht wollen, dann sind auch uns und Opferschutzeinrichtungen oftmals die Hände gebunden", sagt Polizeisprecher Verhnjak.

Doch warum gibt es Frauen, die keine Hilfe suchen? Gewaltforscherin Birgitt Haller zufolge ist der Grund oft Scham und dass manche Frauen glauben würden, sie seien selbst schuld daran, dass sie geschlagen worden seien. Dazu komme die Liebe an sich, "es gibt viele gute Gründe, sich nicht zu trennen", dazu gehörten oft Kinder oder dass man auf das Haushaltseinkommen angewiesen ist.

Oft stehen Gewaltopfer auch unter Druck, ein Fall vom April aus der Steiermark, bei dem ein Mann den Mord an seiner Frau gestand, legt das nahe: Schon 2018 gab es einen Prozess des späteren mutmaßlichen Mörders gegen einen vermeintlichen Nebenbuhler, er hatte ihn wegen Körperverletzung angezeigt. Quasi als Nebenerkenntnis kamen durch SMS-Nachrichten Anhaltspunkte ans Licht, dass die Frau, das spätere Opfer, schon damals Opfer häuslicher Gewalt war. Die Staatsanwaltschaft Graz leitete ein Verfahren ein, aber die Frau habe ihre Aussagen relativiert, sagt ein Sprecher. Wenn es außer der Aussage keine verwertbaren Beweise gebe, "dann sind uns die Hände gebunden", heißt es auch aus der Staatsanwaltschaft.

Das sei kein Einzelfall. "Wir beobachten immer wieder, dass uns Zeugen im Stich lassen", so der Sprecher, und sobald eine Zeugin ihre Angaben ändert – und nicht beweisbar ist, dass sie ihre Meinung durch Zwang geändert hat –, dürfe man die ursprüngliche Aussage nicht mehr verwerten.

Was es braucht? Haller fordert niederschwellige Angebote, etwa Broschüren in jedem Magistrat und in jedem Bezirksamt. Und Aufklärung, nicht nur für die Opfer, sondern etwa auch für Krankenhauspersonal.

Die Politik kündigte einstweilen mehr Geld für Täterarbeit, Opferschutz und Prävention an – und schraubt an Gesetzen. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) prüft aktuell etwa eine Verschärfung des Waffengesetzes. Allerdings: Auch jetzt schon kann gefährlichen Personen die Waffe abgenommen werden, wenn jemand "durch missbräuchliches Verwenden von Waffen Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen oder fremdes Eigentum gefährden könnte". Allerdings werde das schlicht nicht exekutiert, wie die grüne Frauensprecherin Meri Disoski in der Wiener Zeitung anmerkte. Notwendig sind also nicht nur neue Konzepte, sondern auch das Verfolgen der bestehenden. (Lara Hagen, Gabriele Scherndl, 6.8.2021)