In Finnlands Regierung sind Männer in der Minderheit – vor Hass gegen Frauen schützt das aber noch lange nicht. Auch Europaministerin Tytti Tuppurainen (obere Reihe, zweite von links) leidet unter Angriffen übers Netz.

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Wenn Linda Liukas ihre Mails checkt, sich in Social Media bewegt oder in Onlineforen unterwegs ist, muss sie jederzeit gewappnet sein. Für Hassmails, Morddrohungen, Vergewaltigungsfantasien, wüste Beschimpfungen. Liukas ist Kinderbuchautorin, Illustratorin und Programmiererin aus Helsinki. Ihre Bücher sollen schon kleinen Kindern, vor allem Mädchen, das Programmieren näherbringen. Wie passt das zusammen, eine Kinderbuchautorin und frauenverachtende Onlinehetze? Eine Frau in einer männerdominierten Domäne, die Mädchen im selben Bereich empowern will – das scheint offensichtlich ein Problem zu sein. "Es regt Leute einfach auf, wenn junge Frauen eine Meinung über Computer vertreten", so drückt Liukas mit einigem Understatement aus, was ihr da im Netz begegnet. Tatsächlich aber ist es massiver, meist sexualisierter Hass, der sich an ihr und anderen Frauen entlädt. "Linda ficken Liukas" ist noch einer der harmloseren Kommentare beim berüchtigten Onlineforum 4Chan unter ihrem Foto.

Wie geht es einer Kinderbuchautorin, wenn sie sich solchen sexuellen Übergriffen im Internet ausgesetzt sieht? "Ab einem gewissen Punkt machte ich Screenshots, legte sie in einem speziellen Ordner ab, und wenn es mir wirklich schlecht ging, schaute ich sie mir wieder und wieder an. Irgendwann wurde mir klar, dass mein Verhalten absolut toxisch war und ich den Ordner besser löschen sollte", beschreibt Liukas den Tunnel, in den sie die Hetze zeitweise brachte. Inzwischen hat sie Strategien dagegen entwickelt: "Heute versuche ich, solche Belästigungen zu ignorieren, und mich auf die wichtigen Menschen zu konzentrieren, deren Kritik mir wirklich am Herzen liegt – auf die Kinder, für die ich schreibe, oder auf die Lehrer*innen, die wirklich mit meinen Büchern arbeiten."

Mit dem Erfolg kommt die Hetze: das nordische Paradox

Der obengenannte Kommentar auf 4Chan ist auf Finnisch, nicht auf Englisch. Es ist also nicht nur die internationale Community der misogynen Onlinetrolle, die gegen Frauen wie Liukas hetzt. Sondern es ist auch ein finnisches Phänomen. Das ist deshalb erstaunlich, weil Finnland bei der Gleichberechtigung ganz weit vorne liegt. Es gibt nur ein Land auf der Welt, wo es statistisch noch besser ist, eine Frau zu sein: im Nachbarland Norwegen. Gleichzeitig aber taucht Finnland auch ganz oben auf in einer Studie des Europäischen Parlaments zur digitalen Gewalt gegen Frauen, zusammen mit Schweden, Dänemark, Belgien, Luxemburg und der Slowakei. In diesen Ländern sind Frauen ab 15 Jahren besonders krass von Cyberstalking betroffen. Ausgerechnet das feministische Vorbild Skandinavien bringt also solche Entwicklungen hervor, die zurück ins überwunden geglaubte Patriarchat führen könnten.

Expert*innen nennen diesen Widerspruch das "nordische Paradox": In den Ländern mit der höchsten Gleichberechtigung – die meisten skandinavisch – steigen auch die Zahlen der Gewalt gegen Frauen. Und das nicht nur scheinbar: Nicht nur die Anzeigebereitschaft nimmt zu, weil die Bevölkerung sensibilisiert ist für das Thema. Sondern auch real kommt es zu mehr Gewalttaten. Dieser Trend zum Backlash gegen Frauenrechte lässt sich besonders gut bei der Hetze im Netz beobachten, weil sie vor aller Augen in der Öffentlichkeit stattfindet. Aber wie ist er zu erklären? Und wie lässt sich dem entgegenwirken?

"Gerade in Onlineforen scheint es eine Menge junger Männer zu geben, die sich durch eine Frau bedroht fühlen", macht sich Liukas einen Reim auf den Hass. Tatsächlich ist sie extrem erfolgreich mit ihren Büchern, die "Hello Ruby"-Serie wurde weltweit in über 30 Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche. Sie schaffte es 2018 auf die "Forbes"-Liste der europäischen Top-50-Frauen der Tech-Branche. Liukas hat das Gefühl, dass junge Männer oft desillusioniert sind, weil es in den letzten Jahren so viele Möglichkeiten und Förderungen für junge Frauen gibt. "Das zeigen ja auch die Pisa-Studien: Mädchen schließen heute in so vielen Bildungsbereichen so viel besser ab als Jungs." Tatsächlich liegt Finnland bei der Bildung ebenfalls ganz weit vorne – aber eben auch, weil die Mädchen so stark sind, ausgerechnet in Mathe und Naturwissenschaften. Die Kinderbuchautorin findet es daher wichtig, nicht nur Mädchen zu ermutigen, Computerspezialistinnen zu werden, sondern umgekehrt auch Buben für den Care-Sektor zu begeistern, damit sie zum Beispiel Krankenpfleger oder Erzieher werden. Persönlich hat Liukas für sich die Konsequenz gezogen, den misogynen Onlinetrollen "keinen Sauerstoff zu liefern" – das heißt "Kopf runter und weitermachen".

Politische Lösungen sind offenbar heikel

Was aber lässt sich auf der politischen Ebene gegen digitale Gewalt gegen Frauen in Finnland unternehmen? Darauf gibt der sozialdemokratische finnische Digitalminister Timo Harakka eine Antwort: Wir brauchen eine europäische Lösung. "Das Gesetz über digitale Dienste, das in der EU gerade verhandelt wird, gibt eine Antwort auf das immer deutlicher werdende Problem, Rede- und Meinungsfreiheit auf der einen Seite und Missbrauch auf der anderen Seite auszubalancieren", ist Harakka überzeugt. Im Gesetz über digitale Dienste nimmt der Komplex "illegale Hassrede" und "Cyberstalking" allerdings sehr wenig Raum ein, Frauen werden nicht explizit genannt, schon gar nicht als besonders Betroffene. Das scheint insgesamt das Problem zu sein, wenn es um Hetze im Netz und Misogynie als Tatmotiv geht: Es wird viel zu wenig erkannt, wie sehr Frauen dabei im Fadenkreuz stehen und wie sehr der Hass darauf abzielt, sie aus der digitalen Öffentlichkeit, aus vermeintlichen Männerdomänen, aus Machtpositionen zu verdrängen.

Laut einer Studie lässt die frauenfeindliche Onlinehetze Politikerinnen in Finnland davor zurückschrecken, sich an der Politik oder gar der Regierung zu beteiligen.
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Offensichtlich ist das Thema unangenehm, so erklärt sich die Antwort des Digitalministers. Denn ein bisschen klingt der Verweis auf die "europäische Lösung" natürlich nach "Das fasse ich lieber nicht an". Dabei räumt Harakka selbst ein: "Digitale Gewalt ist ein genauso großes Problem wie körperliche Gewalt in Finnland." Immerhin sagt er auch, dass eine seiner ersten Amtshandlungen in der Politik war, mehr Ressourcen zu fordern für die Strafverfolgung bei Cybermobbing, besonders gegen Journalistinnen, Aktivistinnen, Politikerinnen.

Ganz anders reagiert seine Parteifreundin, die Europaministerin Tytti Tuppurainen, auf das Thema, obwohl bei ihr der Verweis auf die europäische Lösung sogar verständlich wäre. Vielleicht nimmt sie die Problematik ernster, weil sie selbst betroffen ist. Eine Studie der Nato zeigte kürzlich, dass die fünf Personen der Regierung von Sanna Marin, die am heftigsten mit Hassrede und Missbrauch auf Twitter zu kämpfen haben, allesamt weiblich sind. Neben Ministerpräsidentin Marin gehört Europaministerin Tuppurainen zu den am stärksten attackierten Politikerinnen. Die Onlinehetze gegen die finnischen Spitzenpolitikerinnen hat dabei extrem misogyne und bedrohliche Formen angenommen. Ihre männlichen Kollegen sind weit weniger betroffen und müssen schon gar nicht mit sexueller Gewalt rechnen. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich der Hass derart gegen dasjenige finnische Parlament entlädt, welches das weiblichste aller Zeiten ist.

Trend zum autoritären Backlash ist globales Phänomen

"Was wir da sehen, ist der Versuch, uns einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Das muss unbedingt ernst genommen werden. Drohungen und Hassreden sind nicht akzeptabel, da dürfen wir uns gar nicht daran gewöhnen", sagt Tuppurainen. "Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass es bei der Hetze nicht um Inhalte oder ein sachliches Thema geht. Häufig konzentrieren sich die Belästigungen auf mein Aussehen oder mein Geschlecht. Und sie sind eine Reaktion, entweder auf meine Reden zur Europapolitik oder auf meine Eigenschaft als Vorsitzende der sozialdemokratischen Frauenorganisation." Die Agenda dahinter sei klar: Es geht darum, sie als weibliche Autorität zu diskreditieren, ihr die politische Kompetenz abzusprechen und sie an ihrer Arbeit für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Gleichstellung zu hindern.

Wie erklärt sich die Europaministerin eines weiblich geführten Landes diesen Backlash? "In Finnland sind Frauen in einer sehr starken Position, unser Frauenwahlrecht ist von 1906, es war das erste in Europa. Gleichzeitig ist die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern aber auch hier noch nicht erreicht." Der Weg der Frauen in die Spitzenpositionen der Politik sei kein geradliniger, sondern einer, der manchmal über Umwege und manchmal eben auch rückwärts verlaufe. Obwohl Frauen fest zur politischen Kultur in Finnland gehören, führt das offenbar noch nicht dazu, dass Gleichberechtigung in allen Bereichen selbstverständlich ist. Scheinbar gibt es genug Menschen, die Feminismus als Elitenprojekt verstehen. Das spiegelt auch den größeren Trend in allen westlichen Ländern, dass autoritäre Bewegungen männliche Herrschaft und Privilegien wiederherstellen wollen. Das ist Tuppurainen bewusst: "Der Trend in ganz Europa lässt sich auch in Finnland beobachten. Es gibt hier rechtspopulistische Bestrebungen, Frauen zum Schweigen zu bringen. Sie sind in alarmierendem Maße geschlechtsspezifischem Cyberhass ausgesetzt."

Unabhängige und autonome Berichterstattung

Deshalb sind die Gleichheit von Frauen und ihr Schutz ein Thema, das unmittelbar mit dem Rechtsstaat verbunden ist, gegen den rechte, antidemokratische Kräfte agitieren. Die Regierung Marin gehe daher gezielt gegen geschlechtsspezifische Gewalt vor. Seit Oktober 2020 ist die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen eine Priorität im Regierungsprogramm. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf digitaler Gewalt. Noch Anfang dieses Jahres soll außerdem ein unabhängiger und autonomer Berichterstatter für Gewalt gegen Frauen eingesetzt sein. Seit einem Jahr ist Misogynie als strafverschärfendes Motiv im Strafgesetzbuch verankert.

Dennoch haben rechte Bewegungen oft genug Erfolg mit ihren koordinierten Hetzkampagnen. Laut einer von "Politico" zitierten Studie lässt die massive frauenfeindliche Onlinehetze Politikerinnen in Finnland davor zurückschrecken, sich an der Politik oder gar der Regierung zu beteiligen. Fast 30 Prozent der Entscheidungsträgerinnen auf lokaler Ebene zogen sich als Folge von Hassrede aus der Kommunalpolitik zurück. Ministerin Tuppurainen will sich von den Angriffen auf ihre Person aber nicht abschrecken lassen. Was nicht so einfach ist, wenn man regelmäßig mit Vergewaltigung bedroht und auf den weiblichen Körper reduziert wird; wenn einer Politikerin auf diese Weise jegliche politische Kompetenz und Autorität abgesprochen wird. Tuppurainen empfindet, wie wahrscheinlich alle Frauen in ihrer Situation, Angst, Scham und Wut, wenn sie mit digitaler sexueller Gewalt konfrontiert ist. "Natürlich habe ich Angst. Ich bin auch nur ein Mensch und habe Familie und Kinder", sagt sie. "Ich werde aber nicht passiv dadurch, sondern ich tue etwas dagegen. Wir Politikerinnen kämpfen damit auch für diejenigen, die keine mächtige Position haben und deshalb nicht für sich sprechen können. Wir tragen Verantwortung für andere Frauen."

Sie hat noch eine Idee, wie man eine bessere Diskussionskultur und gegenseitigen Respekt erreichen könnte. Zunächst klingt das fast schon naiv. Wenn man aber genau darüber nachdenkt, hat die Ministerin durchaus einen Punkt: Wir sollten einander alle mit mehr Warmherzigkeit und Mitgefühl begegnen. (Susanne Kaiser, 11.1.2022)