Ein Trainingsbild aus guten Zeiten. Lennart Neubauer gibt es sich in der Bucht vor dem Laguna Beach Park.

Foto: Alex Grymanis / Red Bull Content Pool

Das Flisvos Sportclub Beach Café Restaurant am St.-George-Strand vor Chora, der Hauptstadt von Naxos, nennen der Einfachheit halber alle nur "Flisvos". Und man fragt sich fast, wieso sich im offiziellen Namen nicht auch noch "Surf Shop" ausgegangen ist, dann wäre wirklich alles gesagt gewesen. Im ersten Stock des Café-Restaurants ist noch längst nicht alles gesagt, dort sitzt ein junger Mann und sinniert. "Es ist gut, dass der Unfall passiert ist", sagt der junge Mann. "Der Unfall hat mehr Positives als Negatives mit sich gebracht", sagt er. "Ich hab so viele Leute getroffen, die ich sonst nie getroffen hätte", sagt er, "und ich hab so viel gelernt, was ich sonst nie gelernt hätte."

Natürlich sind, im Nachhinein betrachtet, die meisten Unfälle dumm. Der Unfall von Lennart Neubauer ist besonders dumm gewesen, saudumm. Am 18. November 2021 ging Lennart am Rande des Worldcups in Marseille mit dem Skateboard auf eine Miniramp und stürzte. Erschwerend kam hinzu, dass gut ein Dutzend Ärzte die Verletzung im linken Knie, ein Knochenödem, nicht richtig erkannten. Mittlerweile steht fest, dass Neubauer praktisch die gesamte Wettkampfsaison 2022 verlieren wird oder schon verloren hat, vielleicht geht sich im Herbst noch ein Contest aus, vielleicht auch nicht. Ein schwerer Rückschlag für das Ausnahmetalent, für das es zuvor immer nur zwei Richtungen gegeben hattet: nach vorn und nach oben.

Österreich-Connections

Kein Jahr ist es her, da saß Lennart ebenfalls im Flisvos, da war nichts mit Sinnieren, da kündigte er an: "2022 wird mein Jahr, da komm ich ganz groß raus." Neubauer hatte bei den Junioren gewonnen, was es zu gewinnen gab, und auch bereits den Sprung zu den "Großen" geschafft, hatte den Tow-in-Bewerb am Neusiedler See geholt und auch als Europameister in dieser Disziplin gegolten, in der die Surfer von Jetskis zur oder auf die Welle gezogen werden. Doch dann ging er mit dem Skateboard auf die Miniramp.

Neubauer, in Bremen geboren, ist auf Naxos aufgewachsen und daheim.
Foto: Alex Grymanis / Red Bull Content Pool

Lennarts Mutter Iris ist Deutsche und lebt seit gut zwanzig Jahren auf Naxos, sein Vater Stefanos ist Grieche, sie sind seit langem getrennt. Iris führt ein kleines Geschäft, und sie managt den surfenden Sohn. Dass dieser vor geraumer Zeit schon Red Bull auf sich aufmerksam machte, stellt sich nun als besonderes Glück heraus. Im Athlete Performance Center des Sponsors in Thalgau absolviert Neubauer große Teile seiner Reha, kürzlich stand er auch wieder auf einem Board – nicht in der Naxos-Lagune, sondern am Fuschlsee. Lennart war durchaus in der Lage, einige Tricks zu machen. Dennoch will er sich, auch auf Anraten der Ärztinnen und Ärzte, Zeit lassen auf dem Weg zurück und, nun ja, nichts übers Knie brechen. "Ob ich mich heuer noch einmal zeige oder nicht, macht wenig Unterschied. Nächstes Jahr werde ich wieder da sein, nicht bloß so gut wie vorher, sondern besser."

Schon jetzt haben, dank wochenlanger Aufbauarbeit, sein Oberkörper und sein rechtes Bein an Stärke gewonnen, das linke Bein wird nachziehen, davon ist er überzeugt. In der Reha hat er etliche Athletinnen und Athleten getroffen, die wie er mit Verletzungen zu tun haben. Er hat viele lange Gespräche geführt, dabei viel gelernt. "Das hat mir mental enorm viel gebracht", sagt er. "Ich weiß jetzt mehr über mich und weiß, wie ich mit schwierigen Situationen umgehen kann."

Lennarts erster Trainer war Stamatis Promponas. Ein Local, selbst hervorragender Freestyler, einer der besten Windsurfer Griechenlands. Stamatis hatte erst als 16-Jähriger zu surfen begonnen. "Eigentlich hab ich Skateboarden spannender gefunden, aber ich hab es dann doch versucht." Die Versuche mündeten flott in Erfolge, national wie international. Familiäre Bande kamen dazu. Im Waffle House lernte Stamatis Anastasia kennen, die auf Naxos urlaubte. Er lud sie auf ein Eis ein, dann ging das Träumen los. Sie träumten von einer eigenen Surfstation. Wenige Jahre später stand er da, der Laguna Beach Park am Rande von Chora in der Nähe des kleinen Flughafens, wo fast immer guter Wind weht. Im Flachwasser der Lagune sind Anfänger und Fortgeschrittene bestens aufgehoben, etwas weiter draußen oder auch in der kleinen Bucht vor der Laguna-Beach-Station kommen Freestylefreaks in der Welle auf ihre Rechnung.

Laguna Beach Park

Im Winter leben sie in Athen, Anastasia ist Kinderpsychologin, im Sommer schupft sie die geschäftlichen Belange der Station. Stamatis kümmert sich um den Surfbetrieb, teilt die Coaches ein und gibt auch selbst Unterricht. Vor kurzem haben sie in der großen Nachbarbucht, in der auch das Flisvos liegt, eine Dependance eröffnet. Wer nicht will, muss sein Klumpert nun nicht mehr über die kleine Landzunge tragen, um in der Lagune "heizen" zu können. Ins Gehege kommt man sich nicht, es ist Platz genug für alle, die den Wind gesucht und hier gefunden haben. Klarerweise sind auch Stefanos und Konstantinos, die kleinen Söhne von Stamatis und Anastasia, längst am Surfen. Manchmal steht Lennart, der die Pause auch genützt hat, um sein Abitur zu machen, am Strand und sieht den Buben zu. "In ihrem Alter", sagt er, "gehören beide zu den Allerbesten auf der Welt."

Foto: Alex Grymanis / Red Bull Content Pool

Für seine Söhne, sagt Stamatis, sei Neubauer "das beste Vorbild". Als 2015 in der Lagune ein Contest stattfand, surfte der elfjährige Lennart vielen bereits um die Ohren. Mittlerweile ist der ehemalige Schüler längst flügge geworden, auch das Flisvos unterstützt ihn nach Kräften. Doch natürlich sitzen "Stam" und "Len" beizeiten zusammen und reden über das Surfen und über die Welt. "Ich rate Lennart immer, das Surfen einfach zu genießen", sagt Stamatis. "Das Wichtigste ist, dass man mit Freude surft!" Genau dort will Lennart Neubauer wieder hin. (Fritz Neumann aus Chora, 18.7.2022)