Geht ein Mann in Therapie, passiert das in vielen Fällen erst über den von der Frau hergestellten Erstkontakt zum Therapeuten oder zur Therapeutin.

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Wenn eine Frau in der Praxis von Barbara Haid Platz nimmt, stellt sich oft rasch heraus: Eigentlich sollte der Partner der behandelten Frau hier sitzen. Dieses Phänomen bemerkt die Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie schon seit längerem: "Wenn zu Beginn einer Sitzung Betroffene ihr soziales Umfeld beschreiben, zeigt sich häufig, dass der größte Belastungsfaktor im Leben der Partner ist, etwa weil sich die Frau Sorgen um ihn macht."

Oder – unabhängig von Geschlechtern – anders ausgedrückt: Menschen, die in Therapie gehen, tun das häufig wegen der Menschen, die nicht in Therapie gehen. "Das kann man bestimmt zum Teil so sagen", betont Haid und erklärt: "Weil der Leidensdruck immer mit dem Umfeld zu tun hat. Wir sind soziale Wesen, und in der Interaktion mit anderen wird unser Selbstwert definiert, aufgebaut oder eben geschädigt."

Dass eher Frauen als Männer Psychotherapie in Anspruch nehmen und sie auch oft für Männer den Erstkontakt herstellen, ist das Resultat gesellschaftlicher Stigmata und veralteter Männlichkeitsbilder. Das liegt nicht nur daran, wie verschieden Mädchen und Buben erzogen werden, sondern zum Teil auch an neurologischen Unterschieden. Aber die Geschlechterungleichheit beginnt sich langsam aufzulösen, sagt die Expertin.

Frauen als Gesundheitsmanagerinnen

Wenn Haid im Gespräch mit einer Klientin merkt, dass eigentlich viel eher der Mann therapeutische Unterstützung brauchen würde, beginnt die Suche nach einer Antwort auf die Frage: Was würde es brauchen, damit der Mann in Therapie geht? "Das ist die große Kunst", sagt Haid. Denn wenn der Mann erst mal in Behandlung ist, brauche die Frau oft gar nicht viel.

Eine Möglichkeit sei der Vorschlag, dass die Frau den Mann doch einmal zur Sitzung mitnimmt. "Wenn das gelingt, ist schon viel geschafft", sagt die Psychotherapeutin. Der Weg dorthin ist aber oft nicht leicht, berichtet sie. Therapie? Er gehe ja nicht einmal zum Arzt oder zur Ärztin, sagen die Frauen dann.

Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft belegt. Gesundheitsvorsorge ist in vielen Familien weiblich, zeigen Studien. Oft sind es die Frauen und Mütter, die dafür sorgen, dass die Kinder regelmäßig zum Zahnarzt oder zur Zahnärztin gehen, pflegebedürftige Angehörige entsprechend unterstützt werden oder darauf bestehen, dass der Partner sich die hartnäckigen Schmerzen doch endlich mal anschauen lässt.

Krankheit, vor allem psychische Krankheit, wird nach wie vor intensiv mit Schwäche verbunden. "Das Eingestehen von Schwäche ist irrsinnig schwierig, vor allem in unserer sehr leistungsorientierten Gesellschaft", sagt Haid. Das liege an alten Stigmata: "Bis heute höre ich Sprüche wie ‚Buben weinen nicht!‘" Das Thema mentale Gesundheit ist bei Männern noch tabubehafteter als bei Frauen.

Männer können Gefühle schlechter verbalisieren

Das beginnt schon in der Kindheit. Bereits vor Jahren stellten Wissenschafter und Wissenschafterinnen fest, dass die angebliche Unfähigkeit der Männer, über ihre Gefühle zu reden, auch darauf zurückgeht, dass mit Söhnen weniger emotional gesprochen wird als mit Töchtern. Junge Mädchen werden oft gelobt, wenn sie umsichtig und hilfsbereit sind. Buben bekommen Anerkennung, wenn sie sich durchsetzen.

Dieses Verhalten prägt sich möglicherweise neurobiologisch ein. Haid beobachtet das in der Praxis: "Wenn ich Männer frage: ‚Was fühlen Sie denn?‘, dann schauen sie mich oft mit großen Augen an, weil sie überhaupt nicht verstehen, was ich damit meine", sagt die Expertin und bedient damit kein Klischee, man weiß das aus der Forschung.

Dass es Buben deutlich schwerer fällt als Mädchen, Gefühle in Worten auszudrücken, liegt aber nicht nur an der Sozialisierung, sondern auch an biologischen Unterschieden. Vor allem im sogenannten Hippocampus zeigen sich deutliche Geschlechterunterschiede. Das ist jene Gehirnregion, die an Erinnerungen und Lernen, aber auch an der Steuerung von Affekten beteiligt ist.

Haid erklärt das so: "Die Kommunikationsnetzwerke zwischen der rechten und linken Gehirnhälfte der weiblichen Gehirne sind viel, viel intensiver vernetzt als die rechte und linke Gehirnhälfte von Männern. Diese engmaschige Vernetzung der Gehirnhälften von Frauen ermöglicht es, dass man das, was man fühlt, auch besser übersetzen und logisch und analytisch in Worte fassen kann."

Neurologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen

Trotzdem wäre es zu kurz gegriffen, Gehirne in typisch männlich oder typisch weiblich einzuteilen, wie eine großangelegte Studie zeigt. Ein internationales Team von Neurowissenschafterinnen und Neurowissenschaftern hat Gehirne von mehr als 1.400 Personen analysiert und sich dabei vor allem auf jene Hirnregionen mit den größten geschlechtsspezifischen Unterschieden fokussiert. Und auch in ebendiesen Bereichen fanden die Forschenden noch große Überschneidungen zwischen den Geschlechtern. Ihr Ergebnis: Die wenigsten Gehirne sind zur Gänze "typisch männlich" oder "typisch weiblich", es ist viel eher ein Spektrum. Das gleiche Gehirn kann in einem Bereich am weiblichen und in einem anderen Bereich am männlichen Ende des Spektrums liegen.

Ob und wie diese Unterschiede mit dem Verhalten zusammenhängen, ist bis dato nicht hinreichend geklärt. Es bleibt ein Wechselspiel, glauben Fachleute, denn das Gehirn formt das Verhalten – und das Verhalten formt das Gehirn. Vor allem Erfahrungen, die wir wiederholt machen, können das Denkorgan prägen. Oder wie Haid sagt: "Unser Gehirn ist ein permanent lernendes Organ. Mit der Sozialisation lernt unser Gehirn dazu."

Umso wichtiger sei es, schon bei kleinen Buben das Sprechen über Emotionen zu normalisieren. Auch die Peergroup sei besonders wichtig, sagt Haid und betont die Bedeutung von prominenten Männern, die offen über mentale Gesundheit sprechen.

Und sie bemerkt positive Entwicklungen. Die heutigen Jugendlichen und heranwachsenden Männer seien in puncto psychische Gesundheit schon deutlich weiter als ihre Vorgänger: "Die tun sich viel leichter zu verstehen, was mit ihnen los ist und dass es so was wie eine Psyche gibt", berichtet die Expertin. Viele von ihnen wissen, dass seelische Schmerzen nichts sind, wovor man Angst haben muss, sondern es darum geht, einen Umgang damit zu lernen – und dieser Umgang kann Therapie sein: "Unsere heutige junge Generation, vor allem die männliche junge Generation, ist da in einem irrsinnigen Wandel." (poem, 3.9.2022)