Im Exil in Schanghai wurde der Wiener Kurt Rudolf Fischer Boxchampion. Die Verbindung zwischen dem martialischen Kampfsport Boxen sowie dem Kulturleben und der Philosophie des Wiener Fin de Siècle bleibt im Ungewissen.

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Wien – Die Lebensgeschichte des Wiener jüdischen Philosophen Kurt Rudolf Fischer liest sich wie ein abwechslungsreicher Roman, wie eine Chronik des 20.Jahrhunderts, eine Odyssee unterschiedlicher Professionen und über mehrere Kontinente verstreuter Stationen. der Standard traf den heute 86-jährigen Zeitzeugen in einem Wiener Pflegeheim zu einem Interview über seine Flucht, die Philosophie des Boxens und die Stimmung am Campus der – vor allem in der Studenten- und Bürgerrechtsbewegung progressiven – maßgeblich an den sozialen Veränderungen beteiligten Universität von Berkeley in den 60er-Jahren.

Zu Beginn des Gespräches, das der Standard am Vorabend des 70. Jahrestages des „Anschlusses 1938“, im März 2008 nach längerer Suche mit Professor Kurt Rudolf Fischer führen konnte, bestätigt er, anfangs ein wenig wortkarg, einige biografische Daten und Fakten seiner bewegten und bewegenden Biografie, die in den letzten Jahrzehnten bereits ganze Generationen von Studenten der philosophischen Fakultät in Wien in ihren Bann gezogen hat. Ja, es stimme, er wurde 1922 geboren, ist in Wien, im zerrissenen Ständestaat als jüdisches Kind aufgewachsen, erkannte, gerade rechtzeitig, die Gefahr des Naziregimes.

1938 war er vor den Nazis geflohen, zunächst nach Brünn. Nach der ersten Station in Brünn verschlug es Fischer ins Exil nach Schanghai, wo er sich als Sportler verdiente und Chinesischer Boxchampion wurde. Die Reihenfolge der Destinationen Brünn und Schanghai schreibt er eher dem damaligen Zufallsprinzip der Flucht zu als einer konkreten Planung. Ebenso sei seine Entwicklung zum Sport durch Zufall entstanden, aus der Notwendigkeit heraus, Geld zu verdienen, sich sein Überleben zu sichern. Der Sport, konkret das Boxen sei für ihn eine der Möglichkeiten gewesen, auszuwandern. Und 1940 in Schanghai war er gut genug trainiert, um chinesischer Boxchampion im Mittelgewicht zu werden. Und das, obwohl er von der Gewichtsklasse eigentlich nur ein Weltergewicht dargestellte, wie er durchaus mit Stolz erzählt.

In der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts gibt es relativ viele Literaten und Intellektuelle, die sich für Kampfsportarten begeistern, am Boxsport interessiert sind und dementsprechend darüber philosophieren. Eine große Zahl an Schriftstellern des angloamerikanischen Raumes, angefangen von Ernest Hemingway über Henry Miller, Charles Bukowski, John Irving, die Franzosen Boris Vian oder Philipp Djian, bis zu Wolf Wondratschek oder Werner Schneyder im deutschsprachigen Raum, stellen philosophische und psychologische Bezüge zwischen der persönlichen Überwindung in Sport und Alltagsleben dar: Schläge auszuteilen und Treffer einzustecken als Synonym des Lebens.

Zur Kultur des Boxens befragt, ob es für ihn persönlich einen Bezug gebe, vor allem im Kontrast oder in Ergänzung zu seiner späteren Berufung zum Philosophen, verneint Fischer: „Nein, Zusammenhang sehe ich keinen. Das ist bei mir eine zufällige Entwicklung gewesen. Ein Zufall. Aber man sagt von manchen, auch von Jack Brunswick – er war Weltmeister im Schwergewicht – man hat von ihm gesagt, er wäre ein Philosoph, aber ich denke, er war kein Philosoph, sondern er hat nur viel gelesen.“ Eine Verbindung zwischen Philosophie und Boxen sieht er für seine Person nicht. Er schließt einen Konnex sogar kategorisch aus. Das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun. Jede Tätigkeit für sich sei Teil seiner Biografie, seiner Entwicklung, nicht mehr und nicht weniger.

Die nächste und wichtigste Station in Fischers Biografie ist die Berkeley- Universität. Zunächst, nach 1945, studierte er am Campus, war dann selbst, in den 50er- und 60er-Jahren, Professor an der philosophischen Fakultät dieser Universität, mit besonderem Fokus auf die Lehren des Wiener Kreises, den Kanon des Wiener Fin de Siècle. Die Universität in den 60er-Jahren beschreibt er folgendermaßen: „Die Berkeley-Universität war sehr, sehr gut, war ausgezeichnet in vielen Bereichen der Wissenschaft: Physik, Chemie, Biologie. Berkeley erreichte Weltruhm und war sehr, sehr gut in der Philosophie. Sie haben die besten Leute gehabt in der Philosophie. John Searle, Hilary Putnam oder später Paul Feyerabend. Richtig. Ja, und ich war dort Gast, sozusagen.“ Als Spezialgebiet erarbeitet Fischer das Wiener Fin de Siècle, die Philosophie des Wiener Kreises. Auf die Frage, ob die Amerikaner einen besonderen Bezug zum Fin de Siècle, zu Wien hergestellt hätten, ob dies vielleicht durch Emigranten bedingt sein könne, bestätigt Fischer mit den Worten: „Selbstverständlich. In Berkeley hat es auch Emigranten gegeben. Auch in der Psychologie und Philosophie, die besonders hervorragend waren. Alte Vertreter des Wiener Kreises waren in der amerikanischen Philosophieszene versammelt: Herbert Feigl, Rudolf Carnap, Carl Hempel ... Und ich war sehr befreundet mit dem Paul Feyerabend.“

„Paul Feyerabend, ein Vertreter des logischen Empirismus, war aber in seiner Zeit in den USA sehr stark beeindruckt von den politischen Bewegungen in Berkeley, von der Studentenbewegung und den ersten Hippiekolonien. Haben Sie auch mit ihm direkt irgendwelche Thesen ausgearbeitet?“ Fischer daraufhin: „Nein, wir haben nicht gemeinsam philosophiert. Die Freundschaft war nur privat.“

Aus historischer Distanz betrachtet, war die Berkeley-Universität in den 60er-Jahren eine der wichtigsten Speerspitzen der Studentenbewegung und der Bürgerrechtsbewegung. Die Free-Speech-Movements beispielsweise hatten in Berkeley ihren Ursprung, nachdem Malcolm X am Campus Redeverbot erteilt wurde. Die freie Rede als Grundrecht war eines der Themen. Aber Fischer, damals direkt vor Ort, relativiert in seiner persönlichen Einschätzung die Darstellung der kollektiven Aufbruchstimmung, auch was die Stimmung, das Verhältnis zwischen Lehrenden und Studenten betrifft, mit den Worten „Da habe ich nicht mitgemacht. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Viele waren einfach da, um zu studieren. Es ist wahr, dass einige Studenten eben besonders interessiert waren und andere Studenten sich nicht gekümmert haben um die Studentenbewegung und um die Bürgerrechtsbewegung.“

Auch auf einige der progressivsten Protagonisten der Berkeley-Universität der 60er-Jahre, Studentenvertreter wie Mario Savio, Jack Weinberg, Reginald Zelnik, angesprochen, verneint Fischer deren Präsenz, zumindest was seinen eigenen Wirkungsbereich betrifft. Er habe sie vom Namen her gekannt, aber im Umfeld der Fakultät waren sie ihm nicht aufgefallen. „Nein. Also ich habe nichts davon gespürt. Das ist eher ein im Nachhinein entstandenes Thema.“ 1968 wechselte Fischer an die University of Pennsylvania in Millersville. 1979 kehrte er nach Wien zurück, wo er als Honorarprofessor an der philosophischen Fakultät der Universität Wien unterrichtete.

Noch einmal zum Aspekt des Sports, speziell des Boxkampfsports, innerhalb der Protestbewegungen: Cassius Clay alias Muhammad Ali ist 1967 so weit gegangen, dass er, um auf die Bürgerrechte aufmerksam zu machen, den Wehrdienst verweigert hat. Ihm wurde daraufhin auch der Weltmeistertitel aberkannt, er wurde mit einstweiligem Boxverbot belegt. Er wurde dann in Zusammenhang mit Martin Luther King und später auch mit Malcolm X gebracht. Auf den Fragenkomplex, wie Fischer die Verbindungen von Politik und Boxsport Ende der 60er-Jahre einschätzt, meint er: „Ich glaube, Muhammad Ali hat den Schritt selber gesetzt, aus persönlichem Engagement. Es hatte aber eigentlich keine Auswirkung. Ich meine, der Sport und die Athleten wurden politisch von Black Power und Black Panther instrumentalisiert.“

Fischers Spezialgebiet, das Wiener Fin de Siècle, stellt viele Querverbindungen zwischen Philosophie, Wissenschaft, Psychologie, Soziologie, Politik, Literatur, und Geisteswissenschaften her. Konkret vor allem zwischen Protagonisten wie Arthur Schnitzler und Sigmund Freud, Carnap, dem gesamten Wiener Kreis, Schopenhauer und bildenden Künstlern wie Gustav Klimt et alii. Eine These in Form einer Fragestellung: „Gibt es Ihrer Meinung nach eine Analogie zwischen dem Wiener Fin de Siècle und den umwälzenden gesellschaftlichen, kulturellen Veränderungen der 60er-Jahre in den USA, bestehend aus Bürgerrechtsbewegung, Friedensbewegung, Anti-Vietnam-Demonstrationen, Studenten, Literaten, Filmschaffenden, Musikern, Wissenschaftern ...?“ Professor Fischer repliziert leicht anerkennend: „Das ist eine interessante These, ein interessanter Gedanke. Ich persönlich glaube aber kaum. Also ich habe nichts davon bemerkt. Das ist ein Gedanke, der einem im Nachhinein kommt, aber damals am Campus war das nicht so bewegend. Das war eher partiell.“ Gedanklich nun in seinem Spezialgebiet angekommen, fährt er begeistert fort: „Und vor allem war das Wiener Fin de Siècle so herausragend in seiner intellektuellen Ausprägung und Einzigartigkeit, dass man das eher nicht vergleichen kann.“

Etwas ermüdet antwortet der 86-jährige Zeitzeuge auf folgende Frage: „Wenn Sie ausgehen von den Veränderungen in den USA von 1967/68 mit Bürgerrechtsbewegung, mit Forderungen für die Selbstbestimmung, Unabhängigkeit der Frauen, für die Rechte der Schwarzen ..., und diese mit den heutigen USA vergleichen, Kandidatur der beiden demokratischen Präsidentschaftskandidaten Hilary Clinton als Frau und Barack Obama als Schwarzer –, ist das eine späte Auswirkung der damaligen Veränderungen?“ Fischer: „Ich glaube nicht. Ich glaube, es hat nichts damit zu tun. Das wäre eine Interpretation.“ Dennoch räumt er aber gleich ein, dass es richtig sei, dass früher beide Kandidaten undenkbar gewesen wären.

Auf die Frage, welche Veränderungen im Gegensatz zu dem Wien, das er 1938 verlassen musste, in Österreich für ihn spürbar waren, als er 1979 nach Wien zurückkam, antwortet Kurt Rudolf Fischer mit stoischer, ruhiger Miene: „Wenig Veränderungen. Früher waren die Nazis die Nazis und dann waren die Nazis die Antinazis.“

Abschließend resümiert der ehemalige Boxchampion, der weitgereiste Philosoph auf die persönliche Frage, was ihn heute mehr interessiere, wenn er über Sport/Boxen oder Philosophie/Geschichte/Politik etwas erfahren, etwas lesen könne: „Am meisten würde mich nicht die Boxgeschichte und nicht die Philosophie, sondern vielleicht der Fußball interessieren. Da fiebere ich, da lebe ich mit – Sie müssen wissen: Ich bin Austria-Anhänger.“ (DER STANDARD, Printausgabe, Samstag, 5. April 2008, Gregor Auenhammer)