John Twelve Hawks: "Dark River. Das Duell der Traveler"

Gebundene Ausgabe, 444 Seiten, € 17,50, Page & Turner 2008.

Der uralte Kampf zwischen Ordnung und Chaos steht im Mittelpunkt der Romane des literarischen Mysteriums John Twelve Hawks - doch unter umgekehrten Vorzeichen: Denn Chaos steht hier für Freiheit und Ordnung für Kontrolle.

Wer "Traveler", den ersten Band der gleichnamigen Trilogie, nicht gelesen hat, für den fasst ein kurzes Vorwort das grundlegende Szenario zusammen: Der Geheimbund der Tabula arbeitet seit Beginn der Zeit - natürlich nur zum Besten des Menschen ... - an der Etablierung des totalen Überwachungsstaats; mit den technischen Möglichkeiten unserer Zeit steht sie endlich vor dem Ziel. Doch muss sie zuerst ihre alten Kontrahenten, die Traveler, auslöschen: Menschen, die Kraft ihres Geistes in andere Welten abtauchen können (unsere ist die vierte Sphäre von sechs, so auch der Originaltitel "Fourth Realm Trilogy") und von dort mit Visionen über alternative Lebensweisen zurückkehren. Beschützt werden die Traveler von den Harlequins: geübten und mit kalter Logik agierenden Kämpfern, die der Gewalt der Tabula ihre eigene entgegen setzen. Ein seit langem tobender Kampf, von dem der größte Teil der Menschheit nichts ahnt, obwohl darin ihr Schicksal entschieden wird - und die Tabula droht zu gewinnen.

Mit den Brüdern Michael und Gabriel Corrigan erhält der Konflikt eine persönliche Note: Beide sind Traveler und vermutlich die letzten ihrer Art - doch Michael hat sich der Tabula angeschlossen und marschiert in "Dark River" gerade durch die Instanzen nach oben. In Berlin plant die Tabula die große Generalprobe für die neue Weltordnung: die Installierung eines "Schattenprogramms", mit dem aus den Informationen von Überwachungskameras, RFID-Chips, Kreditkarten usw. der exakte Weg jedes Individuums rund um die Uhr virtuell rekonstruiert werden kann. Ein fingierter Terroranschlag soll den Behörden die Etablierung des Systems schmackhaft machen.

Gabriel hingegen befindet sich mit seiner Harlequin-Begleiterin Maya und einigen Freunden auf einer gehetzten Dauerflucht: Gelegenheit für Twelve Hawks, dem arglosen Durchschnittsbürger unvertraute städtische Topografien zu entwerfen - das Hauptaugenmerk liegt stets darauf, wie man an den allgegenwärtigen Überwachungssystemen vorbei durch den Alltag kommt. Gabriel und Maya begegnen einer Reihe unterschiedlicher Gemeinschaften, die jede auf ihre Art ebenfalls außerhalb des Rasters leben - sei es ein Nonnenkloster oder eine Gruppe jugendlicher Free Runners in London, hinter deren Lebensweise mehr steckt als bloßes Von-Dach-zu-Dach-Springen als Modesport. Mit der Auslöschung einer solchen Gemeinschaft, einer alternativen Kommune in den USA, durch Truppen der Tabula erlebt der Roman seinen blutigen Beginn.

Jeder Zeit ihre Verschwörungsmythologie - für unsere zunehmend (und absolut zu Recht!!) von "Big Brother"-Ängsten geprägte Epoche ist "Traveler" maßgeschneidert. Kaum eine der beschriebenen Technologien ist Fiktion - nur die eine, alles beobachtende Instanz dahinter (hoffentlich) noch nicht. Dass John Twelve Hawks ein Pseudonym ist, der Autor niemals persönlich in Erscheinung tritt und in den wenigen gegebenen Tele-Interviews behauptete, selbst außerhalb des Rasters zu leben, nährt den Mythos zusätzlich und ist auf jeden Fall ein perfekter Marketing-Dreh. Ohne auf die unzähligen Spekulationen um Twelve Hawks' wahre Identität näher einzugehen: Möge er dem Raster weiterhin "entwischen" - die Geschichte ist noch nicht abgeschlossen.

Jean-Christophe Rufin: "Globalia"

Broschiert, 445 Seiten, € 10,30, Goldmann 2007.

Im nächsten Roman ist der Überwachungsstaat längst Realität geworden: Sicherheit ist Freiheit. Sicherheit ist Schutz. Schutz ist Überwachung. Überwachung ist Freiheit! tönt es in "Globalia", einer global-urbanistischen Dystopie ganz um Stil alter Klassiker wie "Brave New World" oder "Logan's Run". "Globalia" zieht sich in Form eines Archipels von mit Glaskuppeln geschützten Habitaten - den gesicherten Zonen - über die nördliche Hemisphäre der Erde.

Drinnen lebt eine jeder sinnvollen Arbeit entbundene Gesellschaft: Überaltert, doch mit kosmetischer Chirurgie auf jugendlich getrimmt und zugleich die wenigen tatsächlich Jungen inbrünstig verachtend. Jeder Tag ist irgendein sinnloser von einem Unternehmen gesponserter Motto-Feiertag, niemand darf diskriminiert werden, selbst das Recht auf Abweichung ist verfassungsrechtlich als integriertes vertragliches Randdasein garantiert. Dauernd finden in der globalen Demokratie irgendwo Wahlen statt - die Wahlbeteiligung liegt bei zwei Prozent. Nur die Terroranschläge, die auf den privatisierten Straßen Globalias regelmäßig ein Blutbad anrichten, stören das Idyll.

Draußen liegen die Non-Zonen: die größere Hälfte der geteilten Welt. Einst von Globalia in die Anarchie gebombt und an jeder Neu-Organisierung gehindert. Zudem vollständig verwüstet und damit den in Globalia verlautbarten Öko-Parolen von "keine natürlichen Ressourcen für die Industrie" und "Menschenrechte für Tiere" Hohn sprechend. Doch genau dahin zieht es den jungen Rebellen Baikal Smith und seine Geliebte Kate. Dass sie es nicht aus eigener Kraft schaffen, sondern erst nachdem die Graue Eminenz Globalias, Ron Altman, persönlich eingreift, setzt die zynische Handlung des Romans in Gang: Denn Altman möchte Baikal als neues äußeres Feindbild lancieren, um seinen festen Griff um die Weltstadt zu behalten - und das ist nur Teil eines perfiden Plans, der sich in aller Schwärze nach und nach enthüllen wird.

Der Franzose Jean-Christophe Rufin ist Mitbegründer von "Ärzte ohne Grenzen" und Präsident der "Action Contre la Faim": Seine Erfahrungen mit der Ausbeutung der "Dritten Welt" fließen 1:1 in den Roman ein - etwa wenn er beschreibt, wie Garbage People von Globalias mafiösen Mittelsmännern in den Non-Zonen als Wächter der letzten Naturgebiete - den Ozonbrunnen - angeheuert werden. Wenn er "Die Nachrichten aus den Non-Zonen sind Katastrophen und Krieg" schreibt, dann ist klar, dass "Globalia" auf nichts anderes als eine auf die Spitze getriebene Darstellung unserer heutigen Welt abzielt. "Globalia" mag streckenweise plakativ sein - doch steht dies einer gesellschaftskritischen Dystopie eindeutig zu. Es bleibt dem Leser überlassen, ob er "Globalia" ins Science Fiction-Regal oder neben Jean Zieglers "Das Imperium der Schande" stellen will. Ein ernüchterndes, unversöhnliches und unbedingt lesenswertes Buch.

Larry Niven & Edward M. Lerner: "Die Flotte der Puppenspieler"

Broschiert, 428 Seiten, € 9,20, Bastei Lübbe 2008.

38 Jahre ist es mittlerweile her, dass eine der ganz großen Science Fiction-Sagas des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm: "Ringworld". Benannt nach einem von unbekannten Erbauern angelegten gigantischen künstlichen Habitat, das wie ein dünnes Segment einer Dyson-Sphäre sein Zentralgestirn im Abstand der Erde von der Sonne umgibt und das Dreimillionenfache der Erdoberfläche an Lebensraum bietet. Die nachgebildete Erdoberfläche ist übrigens Teil der zahllosen Topografien der Ringwelt - und eines ihrer vielen Geheimnisse, die eine gemischt menschlich-außerirdische Forschungsexpedition im 29. Jahrhundert zu lösen versucht. Seitdem hat der kalifornische Star-Autor Larry Niven - erst in langen, später immer kürzeren Intervallen - in einer ganzen Reihe weiterer Romane seinen fiktiven Bekannten Weltraum ausgeweitet und das Beziehungsgeflecht der darin lebenden Völker näher beschrieben.
 
Im 700 Jahre zuvor spielenden Prolog des aktuellen Romans "Fleet of Worlds" ist dieser Bekannte Weltraum noch deutlich kleiner - und die Besatzung des menschlichen Generationenschiffs "Long Pass" entsprechend verblüfft, als sie von einem unbekannten Objekt überholt werden, obwohl sie doch immerhin mit 30 Prozent der Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind. Es kommt zur ersten folgenreichen Begegnung zwischen Menschen und den Puppenspielern - jener technologisch avancierten Zivilisation, die ihren Spitznamen ursprünglich erhielt, weil ihre beiden Köpfe Handpuppen ähneln. Doch assoziieren "Ringwelt"-LeserInnen ihn längst viel stärker mit den manipulativen Umtrieben der Spezies, von denen in diesem Roman einige mehr entschleiert werden. Und wir begegnen einem alten Bekannten wieder: dem Puppenspieler Nessus, der im Ursprungsroman von 1970 (und dem Handlungsjahr 2855) die Expedition zur Ringwelt veranlasst hatte.
 
Nach den Maßstäben seines Volks, das sich nicht wie wir aus Gruppen-, sondern aus Herdentieren mit ausgeprägtem Fluchtinstinkt entwickelt hat, ist Nessus absolut wahnsinnig - geht er doch hin und wieder Risiken ein: undenkbar für den Durchschnittsbürger seiner Spezies. Nach menschlichen Maßstäben ist er immer noch unfasslich vorsichtig bis feige. Nessus neigt zu manisch-depressiven Phasen - und dass er sich Hälse über Köpfe in Nike, einen aufsteigenden Politiker der Experimentalisten-Partei, verliebt, destabilisiert sein seelisches Gleichgewicht zusätzlich. 2650, also handlungszeitlich immer noch Jahrhunderte vor der Entdeckung der Ringwelt, sieht er sich mit den Folgen der im Prolog geschilderten Ereignisse konfrontiert: Die Nachfahren der "Long Pass"-Besatzung, die nun als "Kolonisten" in der Weltenflotte der Puppenspieler leben, versuchen ihren Ursprung zu rekonstruieren und geraten dadurch in Konflikt mit ihren übermächtigen Nachbarn. Und es zeigt sich, dass diese nicht nur aufgrund der schon 1970 erwähnten kosmischen Katastrophe mitsamt ihrem ganzen Planetenverbund die Flucht aus der Galaxis angetreten haben.
 
Dass "Ringwelt" Space Opera der allerersten Güteklasse war und immer noch ist, hat mehrere Gründe. Zum einen erweist es sich als guter Griff, dass Niven, der die physikalischen Daten seiner fantastischen Welt(en) nach kritischer Betrachtung mehrmals ergänzen und ändern musste, für den vorliegenden Band mit Edward M. Lerner kooperierte, welcher nicht nur Schriftsteller, sondern auch Physiker ist. So spielen in der Regel missachtete Details hier eine Rolle: etwa dass ein einziges kleines und technisch rückständiges Raumschiff, auf relativistische Geschwindigkeit gebracht, die gesamte Heimatwelt der Puppenspieler mitsamt ihrer eine Billion zählenden Bevölkerung vernichten könnte. - Und immer wieder faszinierend auch die Schilderung der Puppenspieler selbst, eine von Nivens besten Schöpfungen: Eine Superzivilisation, die auf Feigheit basiert, und die nicht nur ihre gesamte Technik auf Risikovermeidung abgestellt hat, sondern die auch rücksichtslos andere, nur wegen ihres Entwicklungsstandes potenziell gefährliche, Zivilisationen manipuliert, sie ins Chaos stürzt oder gegeneinander in Kriege treibt. "Angewandte Sozialwissenschaft" nennt sich das - und wo die nicht mehr greift, bleibt immer noch der Völkermord durch einen ferngesteuerten Kometen als Alternative. Und doch vermag man die Puppenspieler nicht gänzlich unsympathisch zu finden - obwohl sie in ihren Taten die klischeehaften Alien-Bösewichter anderer AutorInnen bei weitem übertreffen.
 
Kurz gesagt: "Die Flotte der Puppenspieler" ist ein willkommenes Wiedersehen mit einer der besten Weltenschöpfungen der Weltraum-Science Fiction. NeueinsteigerInnen empfehlen sich als Einstieg vielleicht eher die ursprünglichen Romane - auch weil dort das alles überstrahlende Mysterium der Ringwelt selbst behandelt wurde. Hier kommt sie nicht vor, im Vordergrund stehen dagegen Intrigenspiele und Einblicke in die Kultur der Puppenspieler, also ergänzende Einsichten für solche, die mit Nivens Schöpfung bereits vertraut sind. Doch wird dieser Band ohnehin Appetit auf rückwirkendes Nachlesen machen.
Coverfoto: Bastei Lübbe

Kage Baker: "Zeitstürme: Die Schatten des Krieges"

Broschiert, 544 Seiten, € 10,30, Heyne 2008.

Haben Sie einen Lieblingshelden aus der Geschichte? Möchten Sie ein Kind von ihm? Zumindest in einem Punkt hat die Kalifornierin Kage Baker die wohl realistischste Zeitreise-Darstellung entworfen: nämlich die als das große Geschäft. Die Company (namensgebend für den Original-Titel der "Zeitstürme"-Reihe) von Dr. Zeus bietet ihren KundInnen von archäologischen Kostbarkeiten bis zu ausgestorbenen Tieren jede gewünschte Ware.

Doch hat Baker die Zeitreise mit einigen Spezifika versehen: So kann zwar in die Vergangenheit und wieder zurück gereist werden - doch nichts und niemand kann "seine" Zeitebene Richtung Zukunft verlassen. Begehrte Objekte müssen also nach dem Einsammeln in Depots für die Jahrtausende eingelagert werden, bis sie schließlich im Zeitalter der Company entnommen werden können. Besorgt werden die Objekte von den Operatoren: Menschen vergangener Zeitalter, die im Auftrag von Dr. Zeus rekrutiert und als - äußerlich nicht als solche erkennbare - Cyborgs unsterblich gemacht werden. So überdauern sie die Jahrhunderte, gehen innerlich losgelöst von den Mortalen ihren nicht enden wollenden Aufträgen nach und betrachten die Welt der Sterblichen mit Nonchalance und sarkastischem Humor.

Eine von ihnen ist die Botanikerin Mendoza aus dem 16. Jahrhundert, um deren Erlebnisse sich die in sich abgeschlossenen Bände der Reihe entwickeln. Im aktuellen Band 3 ist Mendoza in Hollywood gelandet - genauer gesagt da, wo später einmal Hollywood sein wird, denn noch schreiben wir 1862/63. Mendoza lebt hier in einer Art Wohngemeinschaft mit anderen Operatoren - und Baker kann zu Hochform auflaufen, wenn sie die lokale Geschichte ihres Heimatstaats in die Handlung einflicht. Da die vernetzten Operatoren auch Zugriff auf Informationen über die Zukunft haben, fließen die Zeitebenen für sie in einzigartiger Weise zusammen: Auf die Spitze getrieben in der 32-seitigen vergnüglichen Beschreibung einer privaten Filmvorführung von D.W. Griffiths Monumentalepos "Intolerance".

Wirklich höchst bemerkenswert sind die schlechten Bewertungen, die die beiden vorangegangenen "Zeitstürme"-Bände auf Amazon.de erhalten haben: immerhin ist das die Stelle, an der noch das banalste Buch genügend Fans zusammenkratzen kann, um über den grünen Klee gelobt zu werden. - Der Hauptgrund dafür dürfte wohl sein, dass Baker Erwartungshaltungen bricht: Gereist wird nicht wie im Genre üblich zu historischen Hot Spots - selbst im aktuellen Band, der mitten in der Zeit des amerikanischen Sezessionskriegs spielt, werden die ProtagonistInnen nur in der Ferne von den "Schatten des Krieges" gestreift.  Tosende Action bildet also nicht den Schwerpunkt. Auf der Plus-Seite (und die überwiegt bei weitem) stehen jedoch die erzählerische Detailfülle und Bakers lebendiger Stil. Ein Beispiel von vielen ist die Situationskomik, die sich immer wieder daraus ergibt, dass die Operatoren für die Augen der Mortalen Tarn-Jobs ausüben müssen ... und diese durchaus ernst nehmen: So setzt der Unsterbliche Oscar seinen gesamten Einsatz darein, im Prä-Kühlschrank-Zeitalter KundInnen einen "Pie-Safe" anzudrehen, während sein Kollege Juan Bautista vom Aussterben bedrohte Vogelspezies einsammeln soll und langsam zum Ziehvater einer durch und durch neurotischen Geflügelschar wird. Humor ist aber nur ein Element von vielen: am anderen Ende des Spektrums schlägt Mendozas persönliche Entwicklung aus, die von den Schatten der Vergangenheit eingeholt wird und einem tragischen Déjà vu entgegen steuert.

Kurz gefasst: Die "Company"-Reihe Kage Bakers ist einer der originellsten Zugänge zum guten alten Zeitreise-Thema bislang. Acht Romane, zwei Kurzgeschichtensammlungen und einige Novellen hat die Autorin der 1997 begonnenen und 2007 endgültig abgeschlossenen Reihe gewidmet: jede Menge Gelegenheit also für weitere Übersetzungen und fortgesetztes Lesevergnügen.

Karl-Heinz Witzko: "Die Kobolde"

Broschiert, 408 Seiten, € 12,40, Piper 2007.

Zwei Hauptströmungen lassen sich in der Fantasy der letzten Jahre ausmachen: Das grenzüberschreitende Einverleiben anderer Genres vom Historienroman über die Detektivgeschichte bis zur Liebesschnulze - Stichwort: Romantasy - oder dem Horror. Und zweitens das getreuliche Abarbeiten der von Tolkien, seinen EpigonInnen und der Rollenspielkultur kanonisierten Ethnografie: Jedem Volk sein Zyklus!

... fraglich, ob man manchem mit der ausführlichen Schilderung nicht den Nimbus des Geheimnisvollen nimmt - doch der Deutsche Karl-Heinz Witzko hat sich auf ungefährliches Terrain begeben und sich eines derart vernachlässigten Volks angenommen, dass genug Freiraum fürs Drauflosfabulieren blieb: eben die Kobolde. Nicht zu den "Guten" zählend, doch auch nicht gefährlich genug, um die Faszination des Bösen auszuüben ... eher einfach nur ein bisschen scheußlich. Bei Witzko allerdings auf die liebenswürdige Art, dazu noch patent, handwerklich geschickt und  - man glaubt es kaum - unschuldig (zumindest solange sie nicht einem Milchrausch verfallen sind). Witzkos Sympathien sind eindeutig: Bei uns zählen Stolz und Ehre noch viel, wird den "Bösewichten" ein Angehöriger der Menschenwelt selbstgefällig erklären - eine Welt allerdings, in der die abgeschlagenen Köpfe durch die Gegend rollen wie Fußbälle und die die Streiche der Kobolde vergleichsweise harmlos wirken lässt.

Mit einem dieser Auftragsstreiche findet der Roman seinen filmreifen Einstieg: Die Kobolde Brams, Riette und ihre Kumpane flitzen mit einer Tür über den Köpfen durch die Nacht, um einen Wechselbalgtausch vorzunehmen - die sprechende und reichlich allürenbeladene Tür kann ihnen Zutritt zu jedem Haus verschaffen. Slapstick-artige Situationskomik folgt auch, nachdem die beleidigte Tür in den Streik getreten ist und die Kobolde einen Weg aus der Menschenwelt zurückfinden müssen, reichlich. Auch wenn nicht alles so gelungen ist wie etwa die Begegnung mit einer Waldhexe, die sich von den Kobolden ein Kleid aus feinster Spinnenseide ganz wie im Märchen wünscht - und durch die folgenden Kapitel in einem anschwellenden Kokon aus Fliegenleichen schreitet ...

"Die Kobolde" ist für LeserInnen gedacht, die es mögen, wenn in Pratchett-artiger Manier Fantasy-Standards durch den Kakao gezogen werden - weniger für solche, die die hehre Richtung schätzen: So manches mit liebevoller Ernsthaftigkeit gehegte Bild im Kopf könnte dabei zerstört werden. Ein Folgeroman, "König der Kobolde", steht kurz vor dem Erscheinen.

Mel Odom: "Das Buch der Halblinge"

Broschiert, 541 Seiten, € 14,40, Blanvalet 2008.

"The Destruction of the Books" heißt das Buch im Original - und die endgültige Zerstörung aller Bücher abzuwenden ist das erklärte Ziel eines Bündnisses von Menschen, Elfen (ja, mit f), Zwergen und Halblingen, die auf einer versteckten und gut geschützten Insel die größte noch existierende Bibliothek aufgebaut haben. Auf dem Festland hingegen erholt sich die Zivilisation nur langsam vom Kataklysmus: einem Krieg, den die Kobolde - ganz andere freilich als die putzigen Geschöpfe Witzkos - vor Jahrhunderten gegen die übrigen Rassen geführt haben. Und noch immer sind sie unbarmherzig darauf bedacht, jedes Buch, das sie in die Hände bekommen, mitsamt seinem Besitzer zu vernichten.

Kruk, ein junger Halblingsbibliothekar, den es nicht mehr auf der Insel gehalten hat, rettet zusammen mit seinem Freund, dem Menschen Raisho, eines Tages ein nicht entzifferbares Buch und bringt es zur Insel zurück: eine raffiniert gestellte Falle, wie sich herausstellt, denn das "Trojanische Pferd" ermöglicht eine magische Attacke auf die Bibliothek. - Alles läuft zwar auf Invasion und Abwehrkampf als Höhepunkt des Romans hinaus. Doch das eigentliche Highlight bildet eher ein Streitgespräch des nachdenklichen Halblings mit dem Zauberer Kray über die Rolle, die die Bibliothek beim Wiederaufbau der Zivilisation spielen könnte, würde sie nur endlich ihre Abgeschiedenheit aufgeben, und über die Verantwortung der Wissenden. Hier zeigt Odoms Konzept, das ansonsten auf einen hohen Tolkien-Wiedererkennungswert (siehe die vorkommenden Völker) setzt, die interessantesten Ansätze, die gerne noch zu vertiefen wären.

Etwas problematisch vielleicht die verwendete Terminologie: Orts- und Völkerbezeichnungen wie Bluttriefende See, Dunkellinge oder Gewölbe Allen Bekannten Wissens wirken unfreiwillig komisch - ganz zu schweigen vom ehemaligen Führer der Kobolde, Lord Khadaver (im Original: Lord Kharrion - der Übersetzung kann man also nichts vorwerfen). In dem Punkt scheint Odom, der auch schon "Buffy"- und "Angel"-Romane verfasst hat, wohl das Gespür ein wenig verlassen zu haben. - "Das Buch der Halblinge" ist übrigens ein noch nicht vollendetes: Im November setzt "Die Gefährten der Halblinge" die Handlung nach einem Cliffhanger fort.

David Weber: "Nimue Alban": "Operation Arche" und "Der Krieg der Ketzer"

Broschiert, 541 bzw. 500 Seiten, jeweils € 10,30, Bastei Lübbe 2008.

Don't judge a book by its cover! Und auch nicht nach dem Klappentext. Ja, nicht einmal nach den ersten hastig im Geschäft durchgeblätterten Seiten. Denn was als weidlich bekannte Space Opera mit Ortungsalarm und dem üblichen Technobabbel beginnt, mündet sehr schnell in ein ganz anderes und viel interessanteres Szenario: Mit der Auslöschung der Menschheit durch feindliche Aliens wird nicht lange gefackelt - schon nach 30 Seiten ist's um sie geschehen. Bis auf einen kleinen Rest, der mittels besagter "Operation Arche" heimlich auf den abgelegenen Planeten Safehold ausgeschmuggelt werden konnte.

Um die Kolonie zu tarnen, werden die Kolonisten mit veränderter Erinnerung versehen und in eine nicht-technische Welt entlassen. Der dritte und letzte Quasi-Prolog schildert, wie 70 Jahre später zwischen den Verantwortlichen der Operation ein Richtungsstreit über Ausmaß und Dauer der gigantischen Manipulation ausbricht - und es gewinnen nicht die Progressiven. Weber entwirft dazu das schaurig-schöne Bild eines "Erzengels", der zu den unwissend gehaltenen Kolonisten von der Niederwerfung himmlischer Verräter spricht, während am Horizont ein Atompilz hochsteigt. Das Mittelalter auf Safehold hat begonnen.

Knapp 900 Jahre später erwacht mit Nimue Alban eine Zeitzeugin der Koloniegründung - oder genauer gesagt: ihr Avatar, das in einen kybernetischen Körper hochgeladene Persönlichkeitsmuster der originalen Nimue, wird aktiviert. Sie findet eine Welt vor, in der die Kirche des Verheißenen so fest im Sattel sitzt wie die christliche zu Beginn der Neuzeit. Nimue beschließt, als gesellschaftliches "Virus" tätig zu werden und - ausgehend vom relativ fortschrittlichen Königreich Charis - Wissenschaft und Industrialisierung zu fördern. Ausgestattet mit der Technik ihrer Zeit und somit allsehend und nahezu allmächtig, tritt sie als Weiser Merlin ihre Progressoren-Mission an. Über allem schwebt letztlich ihre Langzeit-Perspektive: Die neue Menschheit geistig und technologisch auf eine mögliche neuerliche Konfrontation mit den Aliens vorzubereiten.

Einmal mehr nach seiner populären "Honor Harrington"-Reihe hat David Weber aus Ohio eine starke Heroine aufgebaut - hier noch mit einem Extra-Genderbender-Twist versehen. War Honor in einer Weltraum-Spielart der Napoleonischen Kriege unterwegs, dann agiert Nimue in einer Variante der Reformationszeit - mit Charis als protestantischem England auf dem Weg nach oben. Zwar handelt es sich in erster Linie um Abenteuergeschichten an der Schnittstelle von Science Fiction, Fantasy und politischem Intrigenspiel - aber solche mit großem Potenzial: Das auszuschöpfen hängt ganz davon ab, wie stark Weber in den Folgebänden den Aspekt gesellschaftlichen Wandels betonen wird.

Und Achtung: Am Ende von "Operation Arche" steht nicht einmal ansatzweise so etwas wie ein Abschluss: Es handelt sich um Teil 1 des Originalromans "Off Armageddon Reef" und ist mit "Der Krieg der Ketzer" zu komplettieren. Auf Englisch erschien vor kurzem ein brandneuer Roman um Merlin und Charis, der die folgenden Jahre behandelt: "By Schism Rent Asunder".

Coverfotos: Bastei Lübbe

Wolfgang Hohlbein: "WASP"

Gebundene Ausgabe, 959 Seiten, € 24,95, Ueberreuter 2008.

Auch wenn der Autor am Buchrücken Was, wenn die Erde selbst sich wehrt gegen das, was die Menschen ihr antun? schreibt und im Roman mehrmals bedeutungsschwanger der Supervulkan unter dem Yellowstone-Park erwähnt wird, sei der Korrektheit halber gesagt, dass "WASP" nicht auf der globalen Ebene spielt. Das neuste Werk des wohl produktivsten deutschen Fantasy-Autors ist also weder ein neuer "Schwarm" noch ein neues "The End of the Dream", sondern schildert ein lokales Ereignis: Nämlich auf einer Insel vor der deutschen Küste, auf der erst ein Kornkreis auftaucht und anschließend staatenbildende Insekten wie Bienen, Wespen und Ameisen ungewöhnliches und zunehmend aggressives Verhalten zeigen.

Hohlbein teilt seine Werke auf seiner Website in nicht weniger als sechs Alterskategorien ein, "WASP" ist als "ab 12" klassifiziert. Dass das Buch - auch - als Jugendliteratur eingestuft werden kann, liegt aber weniger am Alter des Protagonisten Wayne Müller, Sohn einer deutsch-amerikanischen Liebschaft und Volontär bei einem kleinen Lokalblatt, sondern eher an der nicht immer plausiblen Art und Weise, in der die Erwachsenen bereit sind ihn einzubeziehen. Anders bliebe er als Romanheld ja auch außen vor. Auch sind die sich aufschaukelnden Ereignisse um die Insektenattacken nur Teil der Geschehnisse, die Waynes Erwachsenwerdung vorantreiben. Ebenso wichtig wird es für ihn, sich in einer Konstellation von Männern zu behaupten, die sein Leben prägen: sein Chefredakteur Pohlmann, der Pilot und Vater seiner Freundin Patrizia Grassner, der vermeintliche Biobauer Ehrlicher und schließlich Sahlfranck, Leiter der Umweltorganisation World Animal Safety Project ("WASP"). Sich zwischen Leit- und Feindbildern zu orientieren wird für den beeinflussbaren Wayne zur Herausforderung.

Sieht man von der enormen Länge des Romans (bewirkt durch einige Krebsgänge, vor allem in den Dialogen) ab, bleiben doch einige Minuspunkte bzw. offene Fragen. Die unverhohlene Anschwärzung von Greenpeace - die Causa "Brent Spar" findet hier kaum getarnt ihren Nachhall mit WASP und "Brant Spiner" - ist noch Ansichtssache. Grundlegendes Missverstehen der Evolution und ihrer Prozesse allerdings ist immer wieder ärgerlich. Wieso "Mutter Natur" zum Beispiel - wie beiläufig erwähnt - etwas gegen die Dinosaurier gehabt und sie aussortiert haben soll, bleibt angesichts des völlig konträren Motivs ihrer Attacke auf den Menschen unklar und in sich unlogisch. Und überhaupt: Warum nur tappen so viele AutorInnen beim Thema Evolution fast automatisch dem Intelligent Design-Konzept (Hohlbein führt gar den schwarzen Finger Gottes an) in die Falle? Dass es auch gänzlich ohne der Kirchen aktuellstes Anti-Aufklärungs-Vehikel geht, demonstriert beispielsweise aufs schönste Greg Egans "Teranesia".

Nichtsdestotrotz wird es in der nächsten Rundschau nicht nur um die aktuellen Titel von Sergej Lukianenko und Neal Asher gehen ... es wird auch Gott persönlich zu Wort kommen. Oder so. (Josefson)