Das Wort "deutschnational" im Zusammenhang mit Österreich stellt jüngere Staatsbürger, die in die Selbstverständlichkeit der österreichischen Nation hineingewachsen sind, vor ein Rätsel. Dennoch hat dieser Begriff eine lange und verhängnisvolle Geschichte. Und es ist bezeichnend, dass man in Österreich auch noch nach dem Hitlerkrieg und dem Wiedererstehen der unabhängigen Republik von "Nationalen" gesprochen hat, wenn man Deutschnationale gemeint hat, während dieses Wort auf niemanden anwendbar ist, der sich als überzeugter Österreicher fühlt. Der Deutschnationalismus ist ein vielschichtiges und schwieriges Kapitel der österreichischen Ideengeschichte und ihrer Wechselwirkungen zur Politik. Das gilt übrigens auch für Deutschland. Während sich Menschen in anderen Ländern eines stolzen Nationalbewusstseins erfreuen können, das die Schatten, die es auch da gibt, als vernachlässigenswert beiseiteschiebt, erlaubt die Geschichte der vergangenen hundert Jahre dem Deutschnationalismus einen solchen Gnadenakt nicht. Ein gebrochenes Verhältnis zur eigenen Geschichte lässt sich aber nicht durch deren Ignorieren überspielen, auch nicht durch die in die Zukunft weisende Europäisierung. Das geschichtliche Erbe bestimmt auch gegenwärtiges politisches Handeln. Wir müssen mit unserer Geschichte leben - umso wichtiger ist es, sie auch zu kennen. Eine Wurzel des Deutschnationalismus in Österreich liegt in der zwischen West- und Mitteleuropa unterschiedlichen Entwicklung des Nationsbegriffs. Weder das Heilige Römische Reich, wenn auch seit dem 15. Jahrhundert mit dem Zusatz "deutscher Nation" versehen, noch - nach dessen Ende - die Metternichsche Konstruktion des Deutschen Bundes konnten ihren Bewohnern das Gefühl einer gemeinsamen staatlichen Zusammengehörigkeit geben. Sie waren die Untertanen der Fürsten, die über sie herrschten, und als solche Angehörige souveräner Staaten, von den Hauptmächten Österreich und Preußen (die über die Reichsgrenzen hinausgewachsen waren) bis zu den Duodezländchen etwa im heutigen Thüringen. Was die Deutschen spätestens seit der Reformation einte - die sie in anderer Weise zutiefst spaltete - war die gemeinsame Schriftsprache. Sie wurde von kirchlichen und fürstlichen Institutionen benützt, aber auch in der schönen und der fallweise auftretenden agitatorischen Literatur. Letzteres führte dazu, dass frühe nationale Aufwallungen, etwa in den Klagen über den machtlosen, "einem Monstrum ähnlichen Staatskörper" (Pufendorf), als den der Dreißigjährige Krieg unter dem Diktat Frankreichs und Schwedens das Reich hinterlassen hatte, oder in der Wut über die Aggressionen Ludwigs XIV. zum Ausdruck kamen. Aber das waren nur gelegentliche Anflüge nationalen Zusammenhalts. Weiterhin überwogen die Kriege, in denen deutsche Staaten, meist im Bündnis mit nicht deutschen Mächten, die Kaisermacht des "Hauses Österreich" angriffen. Der deutschen Vielfalt souveräner Staaten stand der vom königlichen Absolutismus geprägte Einheitsstaat Frankreich gegenüber, dem die Eliten, das Schulsystem und schließlich, nach der Revolution, jakobinische Zwangsmaßnahmen auch die einheitliche Sprache verpassten (um 1700 sprach noch etwa die Hälfte der Landbevölkerung Frankreichs nicht Französisch als Muttersprache). Die "volonté générale" (Rousseau) als allgemeine Zustimmung zu einer staatlichen Gemeinschaft, wurde zur Volkssouveränität. Im deutschsprachigen Raum verlief die Entwicklung umgekehrt: Zuerst war die gemeinsame Sprache da, dann, erst spät, erfolgte die Nationsbildung. Das trug dazu bei, dass Herder, Fichte und die Romantiker das "Volk" über die Nation stellten. Von ihren Theorien ausgehend, wurde die ethnische Zugehörigkeit auch für das Nationalbewusstsein und die Staatsbildung in Italien, im östlichen Mitteleuropa und am Balkan ausschlaggebend. Unabhängig von Staats- und Landesgrenzen wurde die deutsche Sprache als das Element der Zugehörigkeit zu den Deutschen angesehen, was in den Einigungsbestrebungen der Revolutionäre von 1848 - auch und gerade in Wien - zum Ausdruck kam. Der Hinauswurf Österreichs aus den deutschen Belangen durch Bismarck hatte bei den deutschsprachigen Österreichern, die allesamt (und einschließlich der Juden) in den Nationalitätenkatastern der Monarchie als Deutsche geführt wurden und sich als solche fühlten, politische Auswirkungen. Das Bekenntnis zum Deutschtum blieb bei den Liberalen lebendig, doch im einsetzenden Nationalitätenstreit ging die Entwicklung weg von der "großdeutschen" 1848er-Linken (deren Traditionen die Sozialdemokratie übernahm) zu zunehmend chauvinistischen, antihabsburgischen deutschnationalen Parteien. Beim Zerfall der Doppelmonarchie sah die junge Republik, sahen vor allem Sozialdemokraten und Deutschnationale, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, im geforderten Anschluss an Deutschland den Nachvollzug der schon 1848 angepeilten "großdeutschen" Lösung. Dies wurde von den Weltkriegssiegern verhindert, aber Österreich sah sich in seiner Selbsteinschätzung als "zweiter deutscher Staat". Die weite Streuung von Millionen Deutschsprachigen in den Nachfolgestaaten insbesondere der habsburgischen, aber auch der russischen Monarchie führte im Nationalsozialismus schließlich zur Einführung des Begriffs "Volksdeutsche" für alle Deutschsprachigen außerhalb Deutschlands und Österreichs. Gespaltene Loyalität Sehr rasch zeigte das Hitlerregime, in welcher Weise es diese Vereinnahmung brutal zu nützen gedachte: Für Grenzrevisionen wie gegenüber der Tschechoslowakei durch das Münchener Abkommen im Herbst 1938, für Umsiedlungen "heim ins Reich" wie aus Südtirol und dem Stalin vorerst überlassenen Baltikum und für die durch nationalistische Agitation von den Volksdeutschen geforderte größere Loyalität dem Reich gegenüber als dem Staat, in dem sie wohnten. Daraus entsprang die Tragödie der Vertreibungen, deren Nachwirkungen jetzt zum politischen Spielmaterial bei der Osterweiterung zu werden drohen. Während das ethnische Abstammungsprinzip in der Bundesrepublik noch weiter gültig blieb und dabei half, die Auswanderung Deutschsprachiger aus den kommunistischen Diktaturen zu ermöglichen, hat sich Österreich zum Bekenntnis als Staatsnation durchgerungen. Aber noch sind, wie sich zeigt, Restbestände des Deutschnationalismus aufzuarbeiten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5. 7. 2002)