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Foto: APA/AFP/Paul J. Richards
Sind wir auf dem Weg zum platten Antiamerikanismus, oder ist Europa dabei, sich zu emanzipieren, und verfolgt pragmatisch seine eigenen Interessen? Immer häufiger wird dieses Frage in diplomatischen Zirkeln der EU-Hauptstadt Brüssel gestellt.

Die Europäer fühlen sich zunehmend von Washington überfahren. Wobei der jüngste Streit um den Internationalen Gerichtshof nur der Höhepunkt einer schwelenden Auseinandersetzung ist, die durch den 11. September überlagert wurde, als die Europäer ihre "uneingeschränkte Solidarität" mit den USA verkündeten. Für viele in Europa ist in der Auseinandersetzung um das Weltgericht schlicht nicht nachvollziehbar, dass die USA ultimativ für die eigenen Leute eine Sonderstellung verlangt und diese Frage mit der Verlängerung der UNO-Friedensmission in Bosnien verknüpft haben. Offenkundig wird hier Macht mit Recht verwechselt.

Zusätzlich sorgt für Kopfschütteln, dass die USA ursprünglich selbst auf die Errichtung des Internationalen Gerichtshofs gedrängt haben. Die Haltungsänderung in dieser Frage ist schlicht auf die innenpolitischen Befindlichkeiten der einzigen Weltmacht zurückzuführen.

Das scheint überhaupt eine der Wurzeln für das zunehmend schwierige Verhältnis zwischen der EU und den USA zu sein. So war der Ausstieg der Vereinigten Staaten aus dem Klimaprotokoll von Kioto - eines der wichtigsten Projekte der Europäer - innenpolitisch bestimmt. US-Präsident George W. Bush wollte die Interessen der amerikanische Industrie nicht mit allzu strengen Auflagen zur Eindämmung des Treibhauseffekts "schädigen".

Innenpolitische Gründe sind auch verantwortlich für die Handelsstreitigkeiten der USA mit den Europäern. So wurden die Einfuhrzölle auf Stahlimporte vom US-Präsidenten mit Blick auf die Kongresswahlen im November verhängt. Für die Europäer verstößt die Maßnahme klar gegen die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO). Ein Verfahren ist anhängig.

Ähnliches gilt für die Agrarreform, die EU-Kommissar Franz Fischler diese Woche in Brüssel präsentieren wird. Hier geht es um den Abbau der Direktsubventionen. Diese sind nicht nur in der EU umstritten, sondern auch der WTO sind Subventionen in der Landwirtschaft suspekt. Globalisierungsgegner erblicken darin ein großes Hindernis bei der Bekämpfung der Armut. Denn die ärmsten Länder können ihre Produkte auf dem Weltmarkt wegen der subventionierten Konkurrenz aus Europa und den USA nur sehr schwer verkaufen.

Für die Regierung Bush zählen diese Argumente nicht. Mitte Mai unterzeichnete der Präsident ein Gesetz, das die staatlichen Beihilfen für Bauern um 70 Prozent erhöht. In den nächsten zehn Jahren sollen sie mit 180 Milliarden Dollar (185 Mrd. Euro) unterstützt werden - gut 73 Milliarden mehr als geplant. Die Europäer sind verärgert.

Zweifel kamen auch auf, wie ernst die USA die bei der Konferenz in Doha im vergangenen November beschlossene neue WTO-Runde zur Liberalisierung des Welthandels überhaupt nehmen. Die deutsche Agrarministerin Renate Künast befürchtet deswegen bereits jetzt neue Konflikte beim Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung Ende August in Johannesburg.

Konflikte beherrschen die Beziehungen zwischen der EU und den USA auch in der Nahostpolitik. Brüssel wirft Washington einen Zickzackkurs vor. Ende Mai sagte Washington ein gemeinsames Vorgehen mit den Europäern, Russland und der UNO zu. Nur einen Monat später verlangte Bush im Alleingang die Ablöse von Palästinenserpräsident Yassir Arafat.

Die Konfliktliste zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten hat innerhalb weniger Monate eine erstaunliche Länge erreicht. Dies ist bei nüchterner Betrachtung aber keinesfalls auf platten Antiamerikanismus zu reduzieren, sondern darauf, dass die Weltmacht USA in wichtigen Fragen mitunter eine ziemlich inkonsistente Politik betreibt. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.7.2002)