Für die Abgeordneten aller Parteien aus den deutschsprachigen Gebieten Österreichs (also auch aus dem noch ungeteilten Tirol sowie aus den deutschsprachigen Randgebieten Böhmens, Mährens und Schlesiens), die am 22. Oktober 1918 im Parlament in Wien zusammentraten, bestand für ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk kein Zweifel. Aufruf zum Volksstaat Der Sozialdemokrat Victor Adler rief die Nachbarvölker (vergeblich) auf, mit dem "Volksstaat" Deutschösterreich einen freien mitteleuropäischen Völkerbund zu bilden, andernfalls sich die Republik als Sonderbundesstaat dem Deutschen Reich anschließen werde. Am 12. November 1918 wurde die demokratische Republik Deutschösterreich ausgerufen; der Artikel 2 des dabei verlesenen Verfassungsentwurfs lautete: "Deutsch-österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik." Die Linke in der Sozialdemokratie mit Otto Bauer an der Spitze hatte bereits seit dem 13. Oktober mit einer Artikelserie in der Arbeiter-Zeitung den Anschlussgedanken auf die Tagesordnung gesetzt. Bauer selbst hat die Motive dafür dargestellt: Es sollte damit bürgerlichen Wünschen, eine konstitutionelle Monarchie zu bilden, entgegengetreten, die Deutschen in Böhmen und Mähren (wo die Sozialdemokraten starke Positionen hatten) vor der tschechischen Herrschaft bewahrt, dem Selbstbestimmungsrecht Genüge getan und, "den Gedanken der Republik mit dem der deutschen Einheit vermählend, an die Überlieferung der Demokratie von 1848" angeknüpft werden. Die Vereinigung mit Deutschland war - aus nationalen und wirtschaftlichen Gründen - auch das Ziel der Deutschnationalen, auch sie waren in den Sudetengebieten stark vertreten. Die noch immer den Habsburgern nachhängenden Christlichsozialen waren zurückhaltender, aber schließlich stimmten alle drei Parteien dafür. Die Siegermächte, allen voran Frankreich, dachten nicht daran, das besiegte Deutschland durch einen Anschluss Österreichs zu stärken, und sie überließen die drei Millionen Sudetendeutschen ohne Abstimmung dem neuen tschechoslowakischen Staat. Auch Südtirol zwischen Brenner und Salurner Klause wurde ohne Befragung seiner Bewohner abgetrennt. Die Republik musste im Friedensvertrag von Saint-Germain die ungeliebte, ja gefürchtete kleinstaatliche Selbstständigkeit akzeptieren und den alten Namen, an dem auch die Kriegsschuld haftete, beibehalten. Als die Koalition 1920 zerbrach und die Christlichsozialen die Regierung übernahmen, wurde der Anschlusswunsch auf Sparflamme geschaltet, um die westlichen Kreditgeber nicht zu vergrämen. Die Sozialdemokratie versagte sich diesen Opportunismus. Bis zur Machtergreifung Adolf Hitlers blieb der "Anschluss an die deutsche Republik mit friedlichen Mitteln" programmatisches Ziel, und die Arbeiter-Zeitung nannte sich bis zu ihrem Verbot im Jahre 1934 "Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs". "Gesamtdeutsch" Nach dem März 1938 hoffte Otto Bauer auf eine "gesamtdeutsche Revolution", und noch Bruno Kreisky, der "alten Partei" verbunden, bestand darauf, den 1918 deklarierten Anschluss streng von dem nur unter Anführungszeichen zu nennenden "Anschluss" von 1938 zu unterscheiden. Mitunter wird in zeitgeschichtlichen Diskussionen den Sozialdemokraten ihre Haltung zum Anschluss polemisch vorgehalten. Demgegenüber lässt sich umgekehrt argumentieren, dass damals nicht nur ein Ausweg aus einer Situation der Ratlosigkeit gesucht wurde, sondern dass mit der Geltung des vom damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson verkündeten Selbstbestimmungsrechtes auch für die Unterlegenen und dem Verzicht auf deren Demütigung Europa möglicherweise der ganze Horror der Hitlerei erspart geblieben wäre. Lesen Sie morgen: Der "zweite deutsche Staat" (Manfred Scheuch/DER STANDARD, Printausgabe, 10.7.2002)