Die Erwartungen an eine Frau Außenminister im Kabinett von José María Aznar sind hoch: Sie muss sich als diplomatische Verhandlerin auf internationaler Ebene bewährt haben, Intelligenz und akademische Bildung werden als selbstverständlich angesehen. Und darüber hinaus sollte sie eine gehörige Portion Mut mitbringen, um sich der ungewohnten Aufgabe im Viana-Palast zu stellen, dem noch nie von einer Frau Minister geleiteten Amtssitz.

Ana de Palacio erfüllt alle diese Voraussetzungen und noch einige mehr, wobei der Hinweis auf eine jüngere Schwester (Loyola) in einflussreicher Position (EU-Kommissarin für Energie und Transport) nur der biografischen Vollständigkeit halber erfolgt: Denn ihr hohes professionelles Ansehen - zuerst als Rechtsanwältin, später als Abgeordnete im Europaparlament und schließlich als einziges weibliches Mitglied im EU-Konvent - verdankt die als Workaholic beschriebene Akademikerin mit Studienabschlüssen in Jus, Politologie und Soziologie ausschließlich den eigenen Verdiensten.

Ana Isabel de Palacio del Valle Lersundi wurde 1948 in Madrid geboren. Sie fiel bereits während ihrer Studienzeit in Frankreich auf, wo sie als "beste Auslandsstudentin" ausgezeichnet wurde. In der Rechtsabteilung eines Bau- unternehmens begann sie eine brillante Rechtsanwaltskarriere in Madrid, die sie auf Umwegen über Lehraufträge an der Universität 1994 in die Europa-Politik führte.

Gemeinsam mit Schwester Loyola trat Ana Isabel der Volkspartei bei, als José María Aznar - damals noch als Oppositionschef - gegen das verstaubte Image des rechtskonservativen Partido Popular ankämpfte. Die erfolgreiche Modernisierung der Partei - sie machte den Wahlerfolg im Jahr 1996 erst möglich - verdankt Aznar auch einer Reihe von qualifizierten Politikerinnen, die heute an der Spitze von Parlament, Senat und mehreren Ministerien das Vorurteil von der männerdominierten Politik in Spanien korrigieren sollen.

Die Bestellung der 53-jährigen Vizepräsidentin der Europäischen Rechtsanwaltskammer, die als Single zwischen Brüssel, Straßburg und Madrid hin- und herpendelt, zur Außenministerin im Kabinett Aznar hat allerdings nicht nur aufgrund ihrer unbestrittenen beruflichen Meriten Applaus geerntet.

Als couragierte Kämpferin gegen eine 2000 diagnostizierte Krebserkrankung erwarb sich Ana de Palacio auch die Sympathien der politischen Gegner: Die Folgen einer Chemotherapie wollte die vom Wall Street Journal in eine Liste der einflussreichsten Persönlichkeiten aufgenommene Spanierin nie verheimlichen. Nach erfolgreicher Behandlung kehrte sie damals ins EU-Parlament zurück, ohne ihre Glatze unter Perücke oder Kopftuch zu verstecken. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.7.2002)