Wien - Wenn in diesen heißen Sommernächten eine kleine Schar bis spät in die Nacht aufbleibt, um im ORF die neue US-Kultserie "Sopranos" zu verfolgen, wäre das Vergnügen dieser Zuschauer ohne dem bewussten und unbewussten Wirken der Ideen der Psychotherapie undenkbar.Eine Familie mit den alltäglichen Beziehungsproblemen des 21. Jahrhunderts; das Familienoberhaupt, ein Mafioso mit "Panikattacken" und in therapeutischer Behandlung, um die seelischen Altlasten der tyrannischen Mutter zu verdauen. "Beruf" und Seitensprünge belasten die Ehe, die der Paartherapie bedarf. Das alles muss geheim gehalten werden, da der Behandlung seelischer Probleme noch immer das Stigma der Schwäche anhaftet, keine Qualifikation für den Chef eines Mafia-Clans. In jedem anderen Unternehmen wäre es wahrscheinlich in der Realität nicht viel anders. Die Denkmuster der Psychotherapie, die mit der "Traumdeutung" Sigmund Freuds 1900 (und der populären "Psychopathologie des Alltagslebens", 1902, sowie "Drei Abhandlungen zur Sexualtherapie", 1905) begründet wurden, reichen nach einem Jahrhundert der Psychoanalyse weit über die unmittelbare Therapie hinaus, sagt der Wiener Therapeut Alfred Pritz, Präsident des Weltverbands für Psychotherapie, im Gespräch mit dem STANDARD. "Ohne ,social skills' ist keine Karriere denkbar. Oder die Gewerkschaft hat das Konzept von Mobbing übernommen, was nichts anderes als das psychotherapeutische Konzept der Traumatisierung am Arbeitsplatz ist", nennt Pritz Beispiele über die weit reichenden Auswirkungen. Die Therapeutisierung der Gesellschaft ist Alltag: Keine Woche, ohne dass ein Therapeut die psychischen Folgen eines Unglücks wie des Grubeneinbruchs in Lassing oder eines familiären Amoklaufs erklären soll, um durch breiteres Verständnis seelisches Leiden zu mindern; keine Talkshow, in der nicht "intime psychosoziale Ereignisse veröffentlicht werden", sagt Pritz. Für Therapeuten ist dies zwar oft nur eine Karikatur ihrer Konzepte, die in langer Tradition erarbeitet wurden. Aber bei aller Problematik sieht Pritz darin einen Gewinn: Die exemplarische Veröffentlichung habe eine "kathartische (reinigende) und modellbildende Wirkung". Moderatoren hören zu und haben damit eine Vobildwirkung, Fachleute würden durch ihre Interpretation zeigen, dass man mit seelischen Vorgängen, früher "privatisiert" und damit oft unerträglich, auch fertig werden könne. "Zwei Jahrzehnte lang war ein Neurologe mit hausbackenen Rezepten die Leitfigur des Seniorenklubs. Im Vergleich dazu ist das ein Fortschritt." Ein Jahrhundert nachdem wir über die Bedeutung des Unbewussten, der Gefühle und der kindlichen Traumatisierung gelernt haben, sieht jedoch der Wiener Philosoph Gerhard Schwarz "die Schwelle zu einem neuen Weltbild". Die bisherige Grundidee der Therapie sei "eine Art Zeitreise, in der die Weichen für das Individuum neu gestellt werden, und dann zurück in die Gegenwart". "Dieses Weltbild haben wir nicht mehr, auch wenn Erkenntnisse bleiben. Wir sehen heute, dass Probleme aus dem sozialen Umfeld kommen, in dem die Symptome einer Störung auftreten." Die Folge: Will man die Störung behandeln, müsse man auf der Ebene des Umfelds intervenieren, nicht auf der Ebene des Individuums. "Das ganze Bündel Mensch ist kein Fixum, sondern je nach Umgebung entwickeln wir Fähigkeiten oder verlieren sie." Schwarz: "Viele individuelle Erkrankungen und Störungen können wir nicht mehr den Individuen in die Schuhe schieben, sondern sie müssen als Störungen im System behandelt werden." (Helmut Spudich/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11. 7. 2002)