Wien - Börsianer, lautet ein Sprichwort, sollten keine Prognosen machen - zumindest nicht über die Zukunft. Sieben Gründe sprechen dafür, dass die Geldvernichtung an den internationalen Aktienmärkten noch nicht zu Ende sein könnte - auch wenn tageweise Gegenbewegungen den Abwärtstrend zu einem Stufen-Crash machen. Zurzeit notieren die großen Börsenbarometer in den USA und in Europa etwa 20 Prozent unter dem Start zu Jahresbeginn. Die Minus-Statistik könnte sich aber noch verdoppeln:
  • Die Märkte sind noch immer teuer. Preisvergleiche an den amerikanischen und europäischen Märkten mit den wirtschaftlichen Boomjahren der 90er verdeutlichen ein noch stark zweistelliges Abwärtspotenzial
  • Analysten und Research-Häuser verlautbaren derzeit fast unisono, dass die Märkte nun "fair" bewertet seien. Gleichzeitig wird dies als "Einstiegschance" verkauft. Historisch gesehen sind Börsen aber nie von "fairer" Bewertung weg angestiegen, sondern von einem Niveau, das "billig" war. Im deutschen Aktienindex DAX etwa liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) derzeit bei 22. Billig und daher ein Kaufsignal wäre ein KGV von 12.
  • Die traditionelle Liebe der Europäer zu ihren Leithammeln in den US-Finanzzentren ist zu Ende. Die Manager-Ikonen des Wall-Street-Kapitalismus fallen schneller als ihre Börsenkurse. Konzernbosse umgibt nicht mehr die Aura des Halbgöttlichen, sondern der Verdacht krimineller Energie. Geld wird aus den USA abgezogen (auch Direktinvestitionen). Das macht auch Druck auf die Aktienkurse in den USA. Fallen sie, fällt aber Europa mit. Gleichzeitig steigt dadurch aber der Euro zum Dollar, was wiederum Druck auf die multinational ausgerichteten Europäer macht.
  • Die Mehrheit der Marktteilnehmer erwartet weitere Enthüllungen kreativer Bilanzschöpfung in den USA und in Europa. Die Folgen der Übermotivation der Konzernbosse, für ihre Aktienoptionen Zahlen zu schönen, dürften noch länger nicht "gegessen" sein. Auch die Bank für Internationalen Zahlungsverkehr hatte zuletzt befürchtet, dass die Serie der Skandale noch nicht zu Ende sei.
  • Die Gewinnprognosen der Analysten dürften noch zu optimistisch sein, die anlaufende Berichtsaison in den USA gibt Anlass zur Furcht vor Überraschungen.
  • Die Marktteilnehmer sind kopflos. Kurse schwanken innerhalb eines Tages wie sonst innerhalb eines ganzen Jahres. Vertrauensverlust und Orientierungslosigkeit hemmen Investitionen in Aktienmärkte.
  • Der Abschied von der Gier der 90er-Jahre ist noch nicht vollzogen. Erst wenn die Börsianer kapituliert haben und glauben, dass nichts mehr zu holen sei, ist Platz für einen Neustart.
(Karin Bauer/DER STANDARD, Printausgabe, 13.7.2002)