Europa
Türkei: Ecevit will Reformen vor Neuwahlen im November durchbringen
Auch gegen Widerstand der MHP-Nationalisten - DSP verliert weitere Parteigänger
Ankara - Der türkische Ministerpräsident Bülent
Ecevit will noch vor den für Anfang November vereinbarten
vorgezogenen Neuwahlen wichtige Reformen durch das Parlament bringen,
in dem seine Regierung am Dienstag die Mehrheit verloren hatte. Die
Führer der drei Koalitionsparteien hätten sich darauf verständigt,
einige für einen EU-Beitritt der Türkei notwendige Reformen noch vor
der Parlamentswahl zu verwirklichen, sagte Ecevit dem Massenblatt
"Sabah" am Mittwoch. Ecevit dürfte mit der Unterstützung der
konservativen Opposition unter Ex-Ministerpräsidentin Tansu Ciller
rechnen, weil sein nationalistischer Koalitionspartner, die Partei
des Nationalen Aufbruchs (MHP), die Reformen ablehnt. Inzwischen hielt die Welle der Abgeordneten-Austritte aus Ecevits
Demokratischer Linkspartei (DSP) an: Bis Mittwoch legten 60
DSP-Abgeordnete ihr Mandat nieder. Damit verfügt die
Regierungskoalition nur noch über 274 von 550 Sitzen in der
Nationalversammlung. Die meisten der aus der DSP ausgetretenen
Abgeordneten wollen sich der im Aufbau befindlichen neuen
Pro-EU-Partei von Ex-Außenminister Ismail Cem anschließen. Das
Parlament soll am 1. September aus den Sommerferien zurückgerufen
werden, um vorgezogene Wahlen zu beschließen.
Deutschland als Wahlfaktor
Ecevit, MHP-Chef Devlet Bahceli und der Chef der liberalen
Mutterlandpartei (ANAP), Mesut Yilmaz, haben sich am Dienstagabend
auf den 3. November als Wahltermin verständigt. Für den Termin hatten
sich die MHP-Nationalisten eingesetzt. Sie wollen die deutschen
Bundestagswahlen abwarten, von deren Ergebnis sie sich erhoffen, dass
es ihren harten Kurs gegenüber der EU fördern wird. Bahceli hatte
erklärt, bei der deutschen Wahl am 22. September würden
wahrscheinlich die Christdemokraten an die Macht kommen. "Wenn die
Christdemokraten in Deutschland an die Regierung kommen, dann ist das
für den EU-Beitrittsprozess der Türkei überhaupt nicht gut", sagte
der MHP-Chef nach Medienberichten bei einer Sitzung seiner
Parteiführung. Dies müssten die türkischen Wähler bei ihrer
Entscheidung berücksichtigen können.
Die vorgezogenen Neuwahlen gelten als Richtungsentscheidung
zwischen Befürwortern und Gegnern des EU-Beitritts und der dafür
notwendigen demokratischen Reformen. Bahcelis MHP will ihren
Wahlkampf gegen die Beitrittskriterien der EU führen, insbesondere
die Abschaffung der Todesstrafe und die Kurden-Autonomie, die sie als
"inakzeptable Zugeständnisse" ablehnt. Seinem Koalitionspartner
Yilmaz von der pro-europäischen Mutterlandpartei hatte Bahceli
vorgeworfen, schon am 29. September wählen zu wollen, weil er eng mit
der CDU "verbandelt" sei und sich von deren Wahlsieg Auftrieb
erwarte.
Mit den höchsten Gewinnen seit Wochen hat die türkische Börse am
Mittwoch auf den Neuwahlbeschluss reagiert. Der wichtigste
Aktienindex Istanbul 100 stieg am Vormittag um 6,3 Prozent und
durchbrach damit erstmals seit Anfang Juni wieder die
10.000-Punkte-Marke. Seit Ecevits erster Einlieferung ins Krankenhaus
im Mai fielen die Aktienkurse um fast 20 Prozent. Wirtschaftsminister
Kemal Dervis bekräftigte am Mittwoch erneut, dass er nicht mehr
vorhabe, zurückzutreten. "Ich will nicht derjenige sein, der die
Regierung zum Zusammenbruch bringt", sagte er der Tageszeitung
"Milliyet". (APA/AP)