Der 71-jährige Avul Pakir Jainulabdeen Abdul Kalam war nicht erste Wahl, sondern machte das Rennen als voraussichtlicher 12. indischer Staatspräsident lediglich als Kompromisskandidat. Er war sozusagen lachender Vierter, weil sich Regierung und Opposition auf die ersten drei Vorschläge nicht einigen konnten.

Das allerdings dürfte den herausragenden Wissenschafter mit dem spitzbübischen Lächeln und einem Haarschopf à la Beatles nicht daran hindern, sich in diesem Amt voll zu entfalten. Denn dem ambitiösen Hochflieger Kalam sind Startschwierigkeiten nicht unvertraut.

Bereits als Bub, als er im Bahnhof seiner südindischen Heimatstadt Rameshwaram Zeitungen verkaufte, hegte er einen Traum. "Eines Tages werde ich fliegen", prophezeite er damals seiner Mutter.

Vorerst allerdings flog er bei der Aufnahmsprüfung zur Ausbildung als Luftwaffenpilot durch. Doch sagt man vom künftigen Präsidenten, dass er auch Ausdauer habe: In einem späteren Anlauf schaffte er den Pilotenschein. Und der trug ihn tatsächlich in höhere Sphären. Abdul Kalam wandte sich nämlich der Raketentechnik zu und war maßgeblich an der Entwicklung jener Rakete beteiligt, die den ersten indischen Satelliten ins All trug. Er war auch der führende Kopf bei der Entwicklung der indischen Mittel- und Langstreckenraketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können.

Trotz dieser Höhenflüge dürfte sich Kalam im pompösen Rashtrapati Bhawan, dem Präsidentenpalast von Delhi, etwas verloren vorkommen. Denn er ist für seinen fast schon gandhiesk-asketischen Lebensstil bekannt. Weltanschaulich hingegen trennen Kalam und den Mahatma Welten: Kalam ist kein Jünger der Gewaltlosigkeit, sondern der atomaren Abschreckung. Er bezeichnet die indischen Atombomben als "Waffen des Friedens".

Dass die hindu-nationalistische BJP ausgerechnet einen Muslim für das höchste Amt im Staat vorschlug, war kluges politisches Kalkül: Nach den grausamen Massakern an fast 1000 Muslimen in dem von der BJP regierten Bundesstaat Gujarat wollte die Zentralregierung beweisen, dass sie nichts gegen Muslime habe.

Auch die BJP-Fußtruppen finden an einem Muslim vom Schlage Kalams kaum etwas auszusetzen. Denn Kalam kennt sich mit den Weden, den heiligen Schriften der altindischen Religion, genauso gut aus wie mit dem Koran.

Seit Kalam vor rund einem Jahr das Amt des wissenschaftlichen Beraters der Regierung aufgab, widmet er sich wieder ganz der Ausbildung junger Studenten. Was Kalam seinen Hörern beizubringen versucht: "Träumt, träumt, träumt." Denn laut Professor Kalam sind Träume wichtig. Und manchmal gehen sie sogar in Erfüllung. (Peter Isenegger/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.7.2002)