Angriff auf EU-Territorium. Besetzung eines Stücks eines Nato-Staats. Marokko hat sich für den Triumph, während der Hochzeit seines Königs und ein paar Wochen vor den Parlamentswahlen auf der Petersil-Insel seine Flagge wehen zu sehen, massive Probleme eingehandelt: mit Madrid und mit zwei mächtigen Organisationen mit Sitz in Brüssel.
Die Reaktionen von EU und Nato sind freilich so zurückhaltend, wie es im 21. Jahrhundert bei einem Konflikt um eine kleine unbewohnte Insel angemessen ist. Auch Spanien wird trotz aller Flottenmanöver keine Invasion einleiten. Dafür ist der territoriale Verlust zu klein und die Vernunft in Madrid zu groß. Zudem würde sich Spanien fragen lassen müssen, warum es die britische Hoheit in Gibraltar heftig kritisiert, selbst jedoch mit Melilla und Ceuta koloniale Exklaven in Marokko unterhält.
Die Spanier und ihre EU-Partner halten sich aber auch aus einem anderen Grund zurück: Gehen sie Marokko zu harsch an, könnte das Land eine Invasion ganz anderer Art auslösen. Rabat könnte die Überwachung seiner Strände einstellen - und alle Flüchtlinge, die dort auf die Überfahrt warten, ihres Weges ziehen lassen. Auch viele Drogenschmuggler würden sich freuen. Verlierer wären die Europäer, die Marokko zudem als Bollwerk gegen den Islamismus strategisch schätzen und schützen.
Marokkos Verhalten ist dennoch unverständlich. Ginge es um Gebietsansprüche, wäre eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag der legale Weg. Die Inselbesetzung aber wird Marokko wirtschaftlich schaden: Spanische Unternehmen werden in "Feindesland" kaum noch investieren, spanische Touristen kaum noch dorthin reisen. Zudem stehen das EU-Assoziationsabkommen und Hunderte Millionen Euro Brüsseler Hilfsgelder auf dem Spiel. Ein hoher Preis für eine karge Insel. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.7.2002)