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Jiri Grusa, Eröffnungsredner der 57. Bregenzer Festspiele
Ich bin aus Prag nach Bregenz gekommen... aus "Braga" nach "Brigantia", um mit Ihnen über eine Musik zu sprechen, die man eigentlich "Musica Bohemica" nennen könnte. Sie sehen: unsere Verknotungen sind alt. Sie machen das Eigene lebendig, da sich in ihnen das Gemeinsame zeigt. Ihre Entscheidung, Bohuslav Martinu zu spielen, ist eben eine Tat der Kontexte. Denn Martinu ist tschechisch und europäisch, ist Heimat und Welt. Geboren in einer kakanischen Kleinstadt, in der Turmstube der Ortskirche, war er arm genug, um in eine biblische Krippe zu passen. Und Policka, das Städtchen, erinnerte ein bisschen an Bethlehem. Auch Krippen baute es als Weihnachtsware. Die Stadt, ebenfalls keine Festung der Reichen, war kuschelig und überschaubar. Böhmische Idylle. Unheimlich heil. So wie bei Spitzweg: Und abends tue ich dichten." Poetisch verschlafen. Hypnos könnte hier schalten und walten. Die Turmstube - mit Vorraum und Ofen - beleuchtete eine Petroleumlampe. Ihr Licht vermischte noch nicht das Dunkle mit dem Hellen, wie die Glühbirnen unserer Großstädte. Die Fenster ließen ein Luftschiff vermuten. So segelte Bohuslav über das Böhmische und lauschte der Landschaft. Sein Vater, Schuster und Türmer, wachte über die Turmuhr. Machte das Zeitmaß der Gegend. Nachts auf dem Rundgang mit der Laterne, tagsüber mit einem Sprachrohr. Beides steht heute noch in der Diele. Ein magischer Schauplatz - die Wasserscheide Europas. Vereint die Nordsee mit dem Schwarzen Meer. Die Winter sind lang und die Spätsommer prächtig. Tägliches Auf und Ab der Stiegen. "Wer in der Höhe wohnt, spürt das Erzittern der Welt eher - und in weiter auslangenden Schwingungen" So wird es bald heideggerianisch heißen. Ein heikles Lob des Heimischen. Doch auch die Luftgeborenen müssen einmal landen. Sie drehen das Sinnbild des Turmes um: Das Ragen wird hier zum Erden. So wie sich die Vögel auf dem Wasser vor den gotischen Stadtmauern niederlassen. Martinu landete unter den Irdischen, nahm Abschied von seinem Turm. Nie aber von dessen Klarheit der Dinge. Er wird kein Nebelgestalter sein, kein Mann der Schwüle. Kein Trompeter von Thesen. Luftgeboren heißt nicht abgehoben. Nur hellsichtig. "Ich sehe die Musik", wird er einst sagen. Da das Hören schon in ihm drin war. Vorerst aber baute er sich eine Geige und spielte sie orpheisch. Fesselte seine Umwelt. Die Stadt war fasziniert, innerlich größer. Sie half ihm und ließ ihn ziehen. Doch auch sein Weggang war orpheisch. Der Aufstieg zog sich. Und jedes Umdrehen kostete etwas Liebes. Das Herkömmliche verschwand mit jedem Schritt. Die Herkunft und Ankunft trennten sich voneinander. So wie das frische zwanzigste Jahrhundert alles zu trennen begann, was bislang verbunden schien. Der junge Martinu staunte darüber. Und nahm es auf. Für einen, der landen musste, bedeutete Trennung den Flug. Die Landung die Freiheit. Er spürte es förmlich: das Verlassene bestimmt nicht das Kommende. Das Verlassen tut es. So ging er. Wollte sein Jetzt. Denn auch die Zukunft war keinesfalls herkömmlich. Sie "weste" bloß an - und wollte gewollt werden. Fragte nicht nach den Mustern, nur nach dem Mut. Die Zukunft hieß - Praha. Das Prag. Die Welt dort war bunter. Tschechisch und jüdisch und deutsch. Stimmig und rege. Noch produzierte es nicht manische Ängste und Ausschließlichkeit. Hybris und Phobos regierten noch nicht als Götter. Hochmut und Furcht, die tödlichsten Fürsten. Und Türme waren hier hundertfach. Kein Wächter mit Sprachrohr könnte hier freilich das Getöse überschreien. Obwohl auch hier war Policka! Und ein Türmer. Im Klementinum, auf der Galerie der Sternwarte. Er hatte eine Fahne und schwenkte sie beim Pendelschlag der astronomischen Uhr. Und ein Feuerwerker auf dem Hradschin sah dieses Signal, steckte seine Lunte in das Schießpulver, und ein Donnerschuss hallte über die Köpfe der Prager. Sie hielten an und richteten ihre Taschenuhren. Die Sterne standen noch gut. Das Chronometer maß keinen Chronos. Galt keinem grausamen Zeitgott, der seine eigenen Kinder frisst. Er prüfte das Zyklische. Ruhe und Regeln. Nur die Tauben flogen kurz auf, doch bald ließen sie sich nieder. Auf Kampa. Dort, wo sie so zahlreich herumpickten. Und wo sie Martinu aus seinem Fenster füttern konnte. Er wohnte nah an der Karlsbrücke. Und sollte ein Paganini werden. Bloß - er war kein Streber, gab keinem Drill nach, um nach oben zu kommen. Als Sohn eines Türmers verstand er das Oben sehr sachlich. In einer Turmstube wird die Zeit materiell. Dort sieht man, dass auch die Ruhe schon zittert. Und Schwingungen werden bald Risse. Man kann sie fassen. Notieren und spielen. Ein bloßer Interpret, ein Wiederholer, vermag hier nichts. Ein Tonsetzer aber fast alles! Und Martinu nahm das Beben des Lebens wahr. Er komponierte, wirkte störrisch und holte sich viel Spott und eine Rüge. Zumal er tatsächlich nach einem Erfolg roch. Und so etwas verzeihen wir keinem. "Unverbesserliche Nachlässigkeit" warfen wir ihm vor. Doch er war nicht mehr an unsere Leine zu legen. Das Feste neu zu deuten, war nicht sein Ziel. Ihm passt das Fließende. Die Jetzt-Zeit, die Gegenwart, ihr Resonieren. Bei uns heißt Gegenwart "pritomnost". Wörtlich: ein "Dabei" mit Endung fürs Abstrakte. Es geht also um kein "Wart" und irgendein "Gegen". Die Präsensauffassung der Tschechen sieht in dem Menschen eine Art Schleuse im Strom. In jenem Panta rhei, dem Allfluss des Seienden. Selbst Martinus Turmstube hat diese Haltung gestärkt. Sie lehrte ihn, jeden Fluchtpunkt zu relativieren. Denn auch Türme werden winzig, wenn man sie von weitem sieht. Darum werden ihm dann die Weiser der einzig richtigen Richtung für immer suspekt. Er mochte keine philosophierende Musik oder musizierende Philosophie. Inhalte, die man erzählen kann, sind Urnen mit Asche. Etwas zwar Volles, doch gleichzeitig leer. Er ahnte, dass jene uralte Gleichung "Je klarer die Spuren, umso leichter die Schritte" nicht so ganz stimmt. Da sie den Boden der Zukunft für garantiert hält. Schön perfektionistisch, europäisch gedacht. Wir Europäer lieben zwar das Heil in der Zukunft. Doch unser Wille dahin ist tückisch. Er entwertet die Gegenwart, macht aus ihr ein wertfreies Nirgends. Einem "Dahin" opfern wir unser "Da" und machen daraus ein "Dahinten". Die Zukunft nach hinten nennen wir Geschichte. Keine andere Kultur hat je so viele Märtyrer geheiligt, so zahlreich abgebildet. Solange wir damit nur Tempel schmückten, schien es gesund. Doch wir sind sekulär geworden. Unser Perfektionismus gebar völkische Erwähltheit und wollte sie züchten. Das war nicht einfach, denn so viel Herkunft bekommt keiner ohne Urkundenfälschung. Also haben wir herrisch gedeutet, was früher nur herrlich war. Output zum Input gemacht. Und wir luden mit diesem Stoff unsere Kanonen auf. Auch die auf dem Hradschin. Sie gaben Feuer und die Tauben auf Kampa erschraken wirklich. Sie hoben auf und irrten in der Höhe. Wollten zum Radetzky-Platz, doch gelandet sind sie auf dem Platz der Republik. Und die Soldaten, die die Stadt vom Franz-Josefs-Bahnhof aus verließen, kehrten auf den von Wilson zurück. Das tschechische Prag fühlte sich wohl und genoss die Tage. Das andere wurde verwundert und ängstlich. Für so was zog es doch nicht in den Krieg! Ein Musikerohr könnte den Unterton hören, das seltsame Rauschen der Gegend. Und alles ähnelte mehr einem Kirtag in Policka, als einer Oper von Wagner im Deutschen Theater. Doch es hörte sich nicht übel an. Wenn man es nicht mehr deterministisch, nicht theatralisch sah. Als würde da eine andere Message hörbar. Nicht präfabriziert, nur aufbaubar, in uns und durch uns. Sie wollte nicht mehr verschönern. Als wäre das Schöne bloß eine Art unseres Ethos. Martinu schrieb diese Musik, doch seine Prager verstanden ihn nicht, im Unterschied zu Mozart von einst. Prag lebte politisch euphorisch, öffnete sich aber mit Vorsicht. Und in der Tat, die ersten Jahre der Tschechoslowakei charakterisierte der Wille, heimisch zu besorgen, was man noch gestern in Paris, London oder Berlin suchte. Und viele reimten noch ceský mit hezký: tschechisch mit schön. Wir behaupten zwar nicht, dass an unserem Wesen andere ceský plus hezký tut nur bescheidener. Martinus Prager sahen in ihm keinen Weltmann, sondern einen Fremdling. Das erste Mal warfen sie ihm vor, er sei keiner von uns. Keiner der üblichen Czeskies und Heskies. Der Vorwurf galt zwar nicht der üblichen Deutschtümelei wie bei Smetana etwa. Dem anderen Großen, geboren unweit von Policka. Martinu war uns zu franko- und russophil. Zuviel Debussy und Strawinsky. Doch er litt nicht darunter. Er wurde trotzig. Er, der "unverbesserliche Vernachlässiger", war lässig und lustig. Und gab zurück. Schrieb einen bis dato bei uns nie gehörten Satz: "Ich habe Zeit!" Mit anderen Worten: Mein "Dabei-Sein", meine "pritomnost" ist flotter, als euer "Drin-Sein". Sie macht die Musik. Das Grenzenlose ist meine Grenze! Mein Sehraum und Hörraum. Also lächelte er und wurde - biographisch gesehen - wieder ein Musicus Bohemicus. Ein "Welt-sky" - wie so mancher vor ihm. Als noch die Musik die Heimat der Musiker war, und nicht die Nation. Ergo wird er auch keine Braut verkaufen müssen - wie Smetana mit seiner genialen Buffa. Sondern ein Bräutigam werden ... der Juliette. Die wartete bereits... an der Seine. Liebe Bregenzer, Sie haben auch Puccinis La Bohème zum Festprogramm Ihrer Spiele erkoren. Ob Zufall oder nicht, ich sehe hier einen Nexus. Natürlich gab es in Paris zu Zeiten von Martinu keine Mimi und ihre Freunde mehr. Deren Lebenslust jedoch gewiss. Und auch der Glaube, der das Heute mehr schätzt, als das Gestern oder das Morgen. Die Bohème und Böhmen hängen zusammen. Ein wenig inkorrekt, aber prächtig. Und in Österreich muss ich nicht erklären, dass jemand, der "auf lepschi" geht, nicht auf den Friedhof oder zur Messe eilt. Auch die Bohème ist einfach eine mächtige Preisung an die Jetzt-Zeit. Keine Angst, der tschechische Botschafter erhebt hier keinen Anspruch auf eine Schutzmarke oder auf ein Heimholen alter Verwandter. Höchstens denkt er sich eine lustige "Homepage". Sie erinnert an die zwanziger Jahre, die später den Menschen als golden erschienen. In Paris, Berlin und Prag. Und golden ist immer ein bisschen "bohemian". Martinu zog durch Paris und liebte schlichte Adressen. Höfe und Gärten, in denen man sokratisch bis in den Tag plaudern konnte. Und wenn die Nacht kam, so kamen auch Träume. Natürlich menschlich privat und somit nicht peinlich. Die Wachenden hatten eine gemeinsame Welt, die Schlafenden eine private. Aber sie durften aufwachen. Manchmal erholt, ja gereinigt. Vor dem Krieg behauptete zwar ein Wiener Professor, wir hätten auch eine Schlafwelt gemeinsam. Und Träume darin, die gar nicht so vereinzelt wirken. Diese Behauptung jedoch hielt man für wienerisch. Eine Unteretage der Seele? Wo wir das Lästige lagern? Unerhört. Vielleicht im Prater. Aber auf den Champs Elysèes und dem Picadilly? Nein. Jetzt aber war dieser Glaube nicht mehr zu stoppen. Als wollten Verlierer wie Sieger des Krieges nun wissen, woher das Morden käme, das sie so freute. Als wollten sie auch das Belastende zu Tage fördern. Das Unbewusste bewusst machen. In Frankreich sah man darin sogar das Schöne und wollte es weltverbesserisch nutzen. Man sah das Untere ganz oben. Und nannte das Überwirklichkeit. Surrealität. Viele Künstler tauften sich Surrealisten. Sie dachten relativistisch, multikausal und antipoetisch. Doch sie waren große Dichter. Einer von ihnen schrieb Juliette ou la clé des songes. Juliette oder das Traumbuch. Ein Stück ad causam der Tiefe, in der man waten kann. Wie bei Ebbe. Oder eben nach diesem grausamen Krieg. Alles lag brach. Nicht nur Kathedralen, auch Kartausen. Chaotisch verstreut. Beliebig zusammensetzbar. Früher hätte man von der Vergänglichkeit des Menschlichen gesprochen. Jetzt nur von der Vergänglichkeit des Vergangenen. Das Unbewusste bewusst machen? Warum nicht, man braucht nur das Unwirkliche zu verwirklichen. Georges Neveux beschrieb diesen Prozess. Aber noch immer als eine Art des Watens im seichten Wasser der Küste. In seiner Juliette gibt es eine Kleinstadt fast böhmisch in einem Böhmen am Meer. Die Leute hier haben kein Gedächtnis. Ein Verlust des Zeitmaßes, normalerweise ein Zeichen des Wahnsinns, wird hier zur Norm. Und Menschen gerieten amtlich hierher. Nicht also, dass sie nur einschlafen und landen bei Hypnos. Hier betreten sie ein Amtszimmer. Und ein Beamter notiert ihren Namen. Sie lösen ein Ticket und bekommen ihren Wunschtraum. Nicht anders als heute in einem Videoshop. Was für eine handfeste Vision, datiert schon 1930! Peepshow der Seele. Ein Neuling wie Michel, Buchhändler und Hauptfigur des Stückes, erscheint hier. Er erinnert sich noch, doch ist er betört durch eine fatale Reminiszenz. Ein Mädchen im Fenster, ein Lied. Etwas Einzigartiges. Michel kann sich nicht lösen. "Gestern, kaum eingeschlafen, kamen Sie her", sagt ihm der Beamte, "Sie sollten aufwachen und von hier fort! " Dem Anschein nach hat er schon Mitleid. Weiß also, was hier angeboten wird. In diesem "Traumbuchstück" wird kein einziger Traum gedeutet. Kein Omen des Kommenden entziffert. Die Menschen hier fesselt die Vergangenheit. Als würde in ihnen der Zeitstrom versickern. Und ihre Jetztzeit zum Schwarzen Loch. Michel könnte seine Erinnerung bieten. Er jedoch schwätzt ganz unkonzentriert, sucht seine Juliette. Da aber alle Mädchen hier so heißen, sieht es aus, als möchte er ein Massenprodukt. In Frankreich ist der Tod weiblich. La mort - wie auch in Tschechien. Ist also Juliette eine Moira, mehr eine Norne? Und der milde Hypnos - ein Thanatos, Gottheit des Todes? Verwandelt in diesen Amtsmann, ein Faktotum des ewigen Vollzugs. Wer hier das Hotel "Zum Seemann" sucht, wie Michel, besteigt kein Traumschiff, sondern eine Galeere. Als Neveux‘s Juliette ihre Premiere hatte, war Paris noch "bohémien" und dennoch dem Schauspiel nicht gewachsen. Der Text wirkte provokant. Als wäre der Autor kein Träumer, sondern ein Hellseher, der das Ende der gängigen Herrschaft prophezeit. Ein Hauch von Sophokles lag in der Luft. Wie sonst hätten sich all die braven Bürger so echauffiert? Sie fühlten sich verschaukelt. Wollten nicht wachend wissen, was sie schon schlafend wußten. Sie hatten Angst. Doch den Ängstlichen Wünsche zu erfüllen, ist einfach. Es reicht, dass sie ihm diese einreden. Der Traum gewährt dann, was die Wirklichkeit versagte. Es reicht, die Werte des Wahnsinns als Sinnwerte anzubieten. Ein Büro zu gründen, Kommität für das Kommende. Als Martinu das Stück von Neveux entdeckte, hatte der Surrealismus bereits seinen Zenit erreicht. Das Über der Wirklichkeit war nicht mehr zu steigern. Selbst Prag wollte jetzt Martinu zurück. Die Öffnung kam endlich, die üblichen Neider schwiegen. Auch Martinus Erfolg war nicht mehr zu leugnen. Ja, Prag hatte eine eigene Gruppe von exzellenten Surrealisten. Es lag zwar im Auge des Taifuns, doch um so mehr wollte es seine pritomnost. Sein Jetzt. Die Gefahr draußen beschleunigte die Inszenierung. Martinu konnte mit den Besten des Landes rechnen. Und es sah sogar aus, als hätte er mit seiner Oper noch einmal die zyklische Zeit beschworen. Doch es war deren letzter Pendelschlag. Wie von dem Komponisten vorgeschrieben, sollte der Dekoration etwas Unnatürliches anhaften. Der Wunsch ist erfüllt worden. Als auf der Bühne in Prag das Amtszimmer aufgebaut wurde, mit dessen Bürotisch, an dem sich jeder seinen Traum abholen darf, als die Insignien noch einmal aufpoliert wurden, damit sie den Helden schmückten, der eine "story" parat hat, die sich aufmacht, historisch zu werden und die dann, bejubelt vom Volke, dem Erzähler die Hauptmannschaft der Stadt bringt, geschah in Wien etwas, was die Prager Premiere zu einer Reprise machte. Am Vortag nämlich setzte sich an der Donau ein schwarzer Mercedes in Bewegung. Er fuhr einen Mann, der vorgab, eine Geschichte für tausend Jahre und mehr erzählen zu können. Er fuhr im Schritt zu seinen Massen. Das Hotel hieß nicht "Le Navigateur" - sondern "Imperial". Und der Jubel galt einer Meldung, die den Vollzug der gewagtesten Träume bekannt gab. Ich weiß nicht, ob der Mann von seiner Policka-Connection wusste. Auch dies war nämlich surrealistisch. Denn unter den Menschen vor der neuen Hofburg könnte sich Marie Zakrajs befinden. Seine Vermieterin aus der Stumpergasse. Er zahlte ihr 20 Kronen monatlich für eine Stube im Untergeschoss. Noch musste er für seine Überwirklichkeit - seelisch wie materiell - leiden. Doch er war voller Hoffnung, das Irreale zu realisieren. Die Wirtin mochte ihn. Und er schätzte sie ebenfalls, obwohl ihr böhmischer Akzent frappant klang. Darüber hinaus wusste der Mann sicherlich nicht, dass der Name Zakrajs in Policka etwas bedeutet. Einer von den Zakrajs hinterließ eine Straße und ein schauriges Drama: "Letzte Hinrichtung auf dem Galgenberg". Ominös? Ich weiß nicht, aber skurril genug. Fast Neveux gemäß. Die Aufführung war prächtig. Auch als ein Auftakt des Gruselns. Nach Jahr und Tag wird auch Prag den schwarzen Mercedes sehen. Und der Professor in Wien, der Entdecker des kollektiven Alptraums, seine sieben Sachen packen. Und fliehen müssen - in das Individuelle. Und bald setzt sich der ganze Kontinent in Bewegung. Soldaten, Flüchtlinge, Panzer und Kinderwägen. Martinu verlässt Paris, versteckt sich im Süden. Ähnlich wie Michel in unserem Stück, entgeht er knapp einem Todesurteil. Flüchtet nach Spanien, Portugal und in die Staaten. Sein Leben nach Juliette wird er als "Juliette in actu" beschreiben. Das Halluzionäre geht aber weiter. Auch seine Tschechen bekommen nun ein Traumamt. Ein Politbüro für "einen Morgen, der ein Gestern bedeutet". So trefflich wird einer von ihnen den Zweck unserer Utopie formulieren. Und ein Kommissar für das Völkische in der Musik wird über Martinu schreiben: "Schaut Euch das an. Wo ist der Inhalt? Nicht einmal eine einzige Melodie erklingt darin, die fähig wäre, in die Münder unserer Soldaten zu passen ...!" Noch einmal wird er zum Fremdling, diesmal lebenslänglich. Und er wird Heimweh haben. Bis auch er seine Juliette sieht und bekommt - denn er wird bald sterben. Aber hören Sie seine Musik. Es sind die ionischen Musen, die sich hier melden. Das Schöne als Praxis. Es ist das Lob des Präsens. Die Gegenwart ist hier ein "Mit-Wart". Die Wirklichkeit ist kein Gegenstand. Vielmehr ein "Mit-Stand". Das Leben darin macht Mut, die Zukunft zu wollen. Es ist der Grund, warum Martinu immer aktueller wird. Fast erinnert er an den "actus purus". An das Göttliche. Das Wort des Anfangs verwandelt sich hier in einen Gedanken. Es wird zum endlosen Zeit-Punkt, der vibriert und bebt. Und der in uns Resonanz findet. (Jiri Grusas Rede-Manuskript anlässlich der Eröffnung der 57. Bregenzer Festspiele am 17.7.2002)