Lore Brunner, ein Zauberwesen aus dem Reich der Brecht-"Mütter"

Foto: Theatermuseum
Berlin - Als die große Errungenschaft des an Dogmen reichen Brecht-Theaters blieb auf den deutschen Nachkriegsbühnen über: das menschliche Ausrufezeichen. Es stand sozusagen immer eine Armbreite neben der Figur, um in komplizierten Prozessen der Wirklichkeitsaneignung mit dem Körper des Schauspielers zur Deckung zu gelangen. Die Dominikaner der Brecht-Kirche saßen am Schiffbauerdamm: Offenbarungslogiker einer unumstößlichen Überlieferung, während im Berliner Ensemble die Messdienste der Brecht-Liturgie weihrauchkesselschwingend abgehalten wurden. Die große, aus Kärnten gebürtige, in Graz ausgebildete Brecht-Schauspielerin Lore Brunner hat das Ausrufungszeichen ganz eigenwillig zu einem kraftstrotzenden Fragezeichen umgebogen. Privat wie beruflich mit dem Brecht-"Häretiker" Manfred Karge verbunden, rettete sie epische Spielformen - und bildete sie in einem riskanten Prozess der Beseelung eigenmächtig um. Niemand, der ihre Brecht-"Mutter" oder ihre Ella Gericke in Karges monodramatischer Geschlechterklamotte Jacke wie Hose gesehen hat, wird das raue, krude Kämpfen gegen die Schablonen der V-Effektmacherei je vergessen. Mit ihrer tiefen Stimme, ihrem tollkühnen Mut zum unvorteilhaften Äußeren, ihrem Hang zu Schminke und Tünche legte sie die Fundamente des Brecht-Dogmas bloß: Das Ausrufezeichen wuchs mit einem Mal aus dem fetten Boden des Volkstheaters empor. Dass die Wiener Öffentlichkeit mit dem Duo Brunner-Karge nichts anzufangen wusste, gehört zu den Ärgernissen der Burg-Ära Peymann. Zuletzt arbeitete Brunner nur noch gelegentlich. Jetzt ist sie 51-jährig in Berlin an Krebs gestorben. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.7.2002)