STANDARD: Auch Österreich verordnet sich derzeit neue Benimmregeln für börsennotierte Unternehmen. Sie bezweifeln aber, dass die Corporate-Governance-Vereinbarungen gegen die schwere Vertrauenskrise auf den Finanzmärkten wirken kann. Kremlicka: Ja, sie sind nicht hinreichend für eine Stabilisierung - abgesehen davon, dass diese Transparenzregeln nicht verpflichtend sind. Nachhaltige Lösungen verlangen eine europäische Initiative - wir reden vom "Finanzplatz Europa", der jetzt die historische Chance hat, aus dem Schatten der übermächtigen Finanzwelt Amerikas zu treten. STANDARD: Sie halten die Probleme auf Europas Finanzmärkten für ebenso gravierend wie in den USA? Kremlicka: Es hat sich gezeigt, dass sich ein weltweiter Cyberkapitalismus gebildet hat, der von der wirtschaftlichen Realität weit entfernt ist. Seine Teilnehmer stehen in einem symbiotischen Verhältnis: Analysten stützen mit ihren Berichten die Investmentbanker, es gibt keine "Chinese walls" (strikte Trennungen; Anm. d. Red.) mehr in Geschäftsbanken. Ethik bei Brokern ist Vergangenheit, und Wirtschaftsprüfer sind mit ihren Beratungstätigkeiten Täter und Opfer zugleich. Zudem stehen international tätige Unternehmen einem Oligopol von vier Prüfungsfirmen (KPMG, Deloitte & Touche, Ernst & Young, PriceWaterhouse; Anm. d. Red.) gegenüber. Da gibt es ja kaum Wettbewerb. Selbst eine Rotation der Prüfer ist schwierig, weil die Unterlagen meist nicht überlassen werden. STANDARD: Eine komplexe Krankheit des Systems, wobei auch der Ruf von Unternehmensberatern Schaden genommen hat - etwa durch die vielen zu teuer bezahlten Firmenübernahmen. Kremlicka: Ja, das hat dazu geführt, dass insgesamt Werte aufgeblasen werden, um sich an ihnen zu bedienen. Selbst gefeuerte CEOs erhalten vom Aufsichtsrat noch Millionen nachgeschickt. Nach dem Platzen solcher Blasen bleiben Kleinanleger auf den Ruinen ihrer Firmen sitzen. Unsere Lebensversicherungen verlieren an Wert, Betriebspensionskassen und Pensionsfonds ebenso. STANDARD: Sie erwarten also noch gewaltige Wertberichtigungen? Kremlicka: Es sieht danach aus - und wenn die Wertpapierbestände wackeln, dann gibt das an den Börsen zum Jahresende erneut einen Ruck nach unten. Aber die Krise geht noch tiefer - es wackeln ja vielleicht schon ganze Investmenthäuser, weil ihr Broker-, Fonds-oder Emissionsgeschäft zusammen gebrochen ist. Die Gerüchte um Liquiditätsprobleme bei JP Morgan könnten ein erstes Indiz dafür sein. STANDARD: Wie sollte eine europäische Initiative aussehen? Kremlicka: Uns muss klar sein: erst wenn die Börsen wieder anspringen gibt es Geld für die Wirtschaft. Ich vermisse daher klare Worte unserer Politiker. Sie sind aufgerufen, sich ausgehend von der europäischen Allfinanzaufsicht mit dem Problem auseinander zu setzen. Dabei geht es um Bilanzregeln und um Werte. Wir müssen uns überlegen, was wir von unseren CEOs wollen. Bis jetzt haben sie auch in Europa 50 Prozent ihrer Zeit mit ihren Aktienkursen verbracht. Festgeschriebene, verpflichtende Aufgaben wie Nachhaltigkeit, kaufmännische Vorsicht und langfristiger Shareholder Value müssen aber im Mittelpunkt stehen. Da hat Europa eine Tradition, das muss wieder europäischer Konsens werden. (DER STANDARD, Printausgabe 23.7.2002)