Kolumbien
"Lasst uns nicht im Dschungel verrotten"
Kolumbien: Erstes Lebenszeichen der entführten Politikerin Ingrid Betancourt: In von FARC-Rebellen verbreitetem Video erhebt sie schwere Vorwürfe gegen Staatschef Pastrana
Bogota - "Es waren 82 sehr einsame Tage", sagt Ingrid Betancourt auf einem Video, das dem kolumbianischen Fernsehsender Noticias Uno fünf Monate nach ihrer Entführung durch Rebellen der linksgerichteten Farc anonym zugespielt wurde. Der Staat dürfe sie und ihre ebenfalls entführte Mitarbeiterin Clara Rojas (links) nicht im Dschungel "verrotten" lassen, forderte die kolumbianische Politikerin. Das Video wurde am 15. Mai an einem unbekannten Ort im kolumbianischen Urwald gedreht. Die 40-Jährige macht Staatspräsident Andres
Pastrana außerdem mit verantwortlich für ihre Entführung und fordert eine
staatliche Untersuchung ihrer Verschleppung. Sie fühle sich vom kolumbianischen Staat verlassen, sagt die
sichtlich abgemagerte Politikerin auf dem 22-minütigen Band, das der
TV-Sender noch am Dienstag ausstrahlte. Betancourt ist auf dem Video
an der Seite ihrer Wahlkampfmanagerin Clara Rojas zu sehen. Beide
tragen einen schwarzen Overall. Nach Angaben des Senders wurde
das Band mindestens an vier Stellen geschnitten. Rebellen waren auf
der Videoaufnahme nicht zu sehen.
Betancourt wirft dem noch bis Anfang August amtierenden Staatschef
Pastrana schwere Versäumnisse vor. Da er sie im Februar nicht in
seinem Hubschrauber in die damalige FARC-Hochburg San Vicente del
Caguan im Süden mitgenommen habe, sah sie sich gezwungen, im
Rebellengebiet mit dem Auto zu fahren. Am 23. Februar geriet die
Politikerin bei einer Wahlkampfreise in der damaligen Sicherheitszone
in eine Straßensperre der Guerilla, in deren Gewalt sie sich bis
heute befindet. Wenige Tage zuvor hatte Pastrana die
Friedensverhandlungen mit der FARC für gescheitert erklärt.
Betancourt: Pastranas Aussagen zeugen von "Grausamkeit" und "Ignoranz"
Pastrana hatte die Grünpolitikerin damals vor den Risiken einer
Reise in das Guerillagebiet gewarnt. Betancourt kommentierte dies auf
dem Band mit den Worten, aus Pastranas Äußerung sprächen
"Grausamkeit" und "Ignoranz". Es könne nicht angehen, dass die
Regierung angesichts der zahlreichen Entführungen nicht in der Lage
sei, eine Lösung zu finden. Die Regierung in Bogota wies die Vorwürfe
erneut zurück. Betancourt habe die Ratschläge nicht befolgt, sich
nicht in das Rebellengebiet zu begeben, sagte Innenminister Armando
Estrada.
Die Entführte forderte Generalstaatsanwalt Edgardo Maya auf, die
Umstände ihrer Verschleppung aufzuklären. Sie sprach sich auch für
eine Lösung für die zahlreichen entführten Polizisten, Soldaten und
Zivilisten aus und hob das Schicksal von etwa 50 Polizisten und
Soldaten hervor, die als Geiseln der FARC seit Jahren "im Urwald
vergammeln". Die Regierung betreibe keine Politik, um das Problem zu
lösen, sagte Betancourt. Zugleich sprach sie sich gegen den von der
FARC geforderten Austausch von Gefangenen aus.
Das Band endet mit der Forderung an die neue Regierung, sich noch
mehr um Frieden zu bemühen. Pastranas Nachfolger Alvaro Uribe tritt
am 7. August sein Amt an. Betancourts Familie hatte ihre Kandidatur
bis zu den Wahlen aufrechterhalten. Die Ex-Senatorin erhielt bei dem
Urnengang am 26. Mai ein halbes Prozent der Stimmen.
Erneut Bombenanschläge
Bei der Explosion einer Autobombe sind in
Kolumbien am Mittwoch mindestens zwei Polizisten getötet worden. Acht
weitere Menschen wurden bei dem Anschlag in San Juan de Rioseco nach
Angaben der Behörden zum Teil schwer verletzt, unter ihnen fünf
Zivilisten. Der Ort liegt nur 50 Kilometer von der Hauptstadt Bogota
entfernt. Wie die Polizei mitteilte, wollten die Beamten ein
verdächtiges Fahrzeug kontrollieren, das am Morgen von Unbekannten
verlassen worden war. Der örtliche Provinzgouverneur Alvaro Cruz machte die
lichtsgerichtete FARC-Guerilla für den Anschlag verantwortlich.
Am Dienstag wurde der frühere Abgeordnete der liberalen Partei, Hildebrando Parra, bei
einem Bombenanschlag getötet. Die Behörden schlossen nicht aus, dass
der Anschlag in Zusammenhang mit der Offensive der FARC-Rebellen
stehen könnte, die seit Monaten Kommunalpolitiker, die nicht
freiwillig zurücktreten, mit dem Tode bedrohen.
Die FARC ist mit rund 17.000 Mitgliedern die größte
Rebellenorganisation Südamerikas. Zur Finanzierung ihres bewaffneten
Kampfes gegen die Regierung und rechtsgerichtete Paramilitärs
entführt die Guerilla jedes Jahr mehrere hundert Zivilisten, die in
vielen Fällen getötet oder jahrelang gefangen gehalten werden.(DER STANDARD, Printausgabe, 25.7.2002/APA/dpa)