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Soziale Faktoren können Sexsucht auslösen
Eigene Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und ein gestörter Umgang mit Intimität in der Familie
Hamburg - Eigene Missbrauchserfahrungen in der Kindheit
und ein gestörter Umgang mit Intimität in der Familie sind die
häufigsten Auslöser von so genannter Sexsucht. An ihr leiden nach
US-Schätzungen drei bis sechs Prozent der Bevölkerung, drei Viertel
davon Männer, wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde berichtet. Sexsucht sei für die
Erkrankten ebenso qualvoll wie etwa Spiel- oder Kaufsucht. Sie
zerstöre Existenzen, zerrütte Familien und führe zu Straftaten. Die Experten betonen, dass es sich um eine behandlungsbedürftige
psychische Erkrankung handle. Über ihr Problem zu sprechen, falle den
Patienten meist sehr schwer, da diese Form von Abhängigkeit mehr als
andere tabuisiert und schambesetzt sei. "Sexsucht ist oft gekoppelt
mit Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit, Essstörungen oder
Depressionen", sagt Wolfgang Berner von der Abteilung für
Sexualforschung am Uniklinik Eppendorf in Hamburg. Sie werde oft von
solchen Abhängigkeiten überdeckt und sei daher nur schwer zu
erkennen.
Suchtkarriere
Die Suchtkarriere beginnt nach Angaben des Psychiaters wie andere
Abhängigkeiten auch: Die Kranken wenden immer mehr Zeit und Energie
für ihre Befriedigung auf, ohne diese aber wirklich zu erreichen. Die
Patienten verlieren nach und nach die Kontrolle über ihr Verhalten.
Immer mehr Geld geht für Telefonsex, Pornografie, Bordell -und
Clubbesuche verloren. Manche der Betroffenen werden wegen sexueller
Belästigung oder der Internet-Suche nach Erotikangeboten von ihrem
Arbeitgeber entlassen, andere als Exhibitionisten oder Vergewaltiger
straffällig.
Möglich seien auch körperliche Folgen - etwa wegen sexuellen
Risikoverhaltens, unnötiger chirurgischer Eingriffe, Verletzungen an
Geschlechtsteilen oder der schädlichen Einnahme von Potenzmitteln,
erklären die Experten. Manche der Patienten berichteten über sehr
frühe sexuelle Erfahrungen, die sie als überwältigend erlebt hätten -
ähnlich Drogenabhängigen bei ihrem ersten "Kick". Diese Erfahrung
werde immer wieder gesucht, um Stress, Angst, Einsamkeit und
Depressionen zu betäuben. Oft sei die Sucht gekoppelt mit einem
schwachen Selbstwertgefühl, Persönlichkeitsstörungen und geringer
Intelligenz.
Selbsthilfe
Nach amerikanischem Vorbild gibt es inzwischen auch in Europa Selbsthilfegruppen für Sexsüchtige und ihre Angehörigen. In
psychiatrischen Kliniken wird Beratung und Therapie angeboten. Je
nach Art der Störung kann nach Angaben der Psychiater am Anfang eine
mehrmonatige völlige sexuelle Abstinenz sinnvoll sein. Für die
Patienten sei dies mit massiven psychischen Entzugserscheinungen wie
Angstzuständen, Weinkrämpfen oder Wutausbrüchen verbunden.
"Der Patient soll so wieder lernen, Intimität ohne Sexualität zu
erleben, unterdrückte Schmerz-, Scham- und Schuldgefühle zuzulassen
und sie nicht durch zwanghaften Sex zu überdecken", sagt der Sprecher
der Fachgesellschaft, Peter Falkai. Eine meist jahrelange
Psychotherapie schließe sich an. Auch Medikamente seien sinnvoll,
besonders wenn zusätzliche psychische Störungen wie Depressionen,
erhöhte Impulsivität oder Zwanghaftigkeit vorlägen. Wichtig sei es
auf jeden Fall, andere Süchte wie Alkohol- oder
Medikamentenmissbrauch gleichzeitig zu behandeln.(APA/AP)