Quälender Hustenreiz riss viele Bewohner der 1997 für Umsiedler des Ertan-Wasserkraftwerkes erbauten Gemein-de Yanbian in Chinas südwestlicher Provinz Sichuan aus dem Schlaf. Mit nassen Handtüchern vor dem Mund drängten rund 1500 Menschen aus ihren Häusern und flohen talabwärts, entlang des Yalong-Flusses, eines Zubringer zum Oberlauf des Jangtse. Über ihnen schwebte eine 30 Kilometer lange gelbliche Giftwolke, die Folge eines geborstenen Beckens in der nahe gelegenen Phosphorfabrik.Die Giftkonzentration in der Luft erreichte mehr als das vierfache des gesundheitsgefährlichen Limits für Phosphor. In der 25 Kilometer flussabwärts entfernten Stahlstadt Panzhihua, wohin die Wolke zog, zählte man im Krankenhaus am Ende des Tages 653 Patienten. Ein Beamter der Provinz verlangte, die Zahlen nach unten zu schönen. "Schon bei 80 Vergiftungsfällen müssen wir doch eine Untersuchung einleiten." Genau recherchiert Der 32-jährige Pekinger Journalist Tang Jianguang hat diesen Unfall, der am 2. Juli die Stadt Panzhihua mit 1,1 Millionen Menschen in Panik versetzte und das Trink-wasser verseuchte, penibel recherchiert: "Ich habe eine Woche lang mit mehr als 20 Beteiligten gesprochen." Seine dramatische zwölfseitige Reportage machte das Pekinger Magazin Xinwen Zhoukan (Nachrichtenwoche) zu seiner Titelgeschichte. Die erst vor zwei Jahren von der halboffiziellen Nachrichtenagentur Zhongguo Xinwenshe gegründete Wochenzeitschrift mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren steht für einen neuen Trend unter Chinas Medien. Rund zwei Dutzend Zeitschriften und Zeitungen loten die Grenzen des Erlaubten immer weiter aus. Tabus fallen Einstige Berichttabus fallen für Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftsthemen immer rascher. "Wir stoßen auch bei der Aufdeckung von Skandalen auf keine Probleme. Da ist ein Wandel in Gang gekommen", berichtet der ebenfalls 32-jährige Ressortchef Liu Feng von der Nachrichten- woche, deren Journalisten im Durchschnitt 30 Jahre alt sind. Der Umweltunfall in Yanbian begann mit dem Zusammenbruch einer nur aus Zie-gelsteinen gebauten Außenmauer für ein Becken, indem eine Lehmphosphormischung lagerte. Diese floss heraus und entzündete sich beim Luftkontakt. Journalist Tang zitiert einen bekannten Umweltaktivisten der Region, der vor solchen Unfällen gewarnt hatte. Mit der Fabrik setze man sich ein "chinesisches Tscher-nobyl" vor die Haustür. Da nur eines der Becken der Großfabrik barst, entkam die Region der Megakatastrophe. Der Unfall, der einen Toten zur Folge hatte, ist aber ein Lehrbeispiel für die verheerenden Folgen, die Chinas rücksichtslose Industrialisierung auslöst. Fehlplanung Wie Journalist Tang herausfand, geht die Gründung der inzwischen geschlossenen Phosphorfabrik auf den Bau des 14 Kilometer entfernten Wasserkraftwerkes Ertan zurück. Das riesige Stromwerk stellte sich als Fehlplanung heraus, als es nicht in das Lan-desstromnetz integriert werden konnte und so nur zu einem Drittel seiner Kapazitäten genutzt wurde. Die Investitionsgesellschaft der Provinz Sichuan, der 45 Prozent der Anteile am Ertan-Kraftwerk gehören, ließ daraufhin 1998 für 320 Millionen Yuan (38,5 Millionen Euro) ein Riesenphosphorwerk in Yanbian als Abnehmer für große Strommengen bauen. Die Phosphorproduktion erwirtschaftete allein 2001 Exporterlöse in der Höhe von 22 Millionen Euro. Die Investoren kümmerten sich nicht um Proteste der umgesiedelten Bewohner gegen die flussaufwärts gebaute Zeitbombe. Die Antwort der Behörden fiel trotz toter Fische im Fluss immer gleich aus. Die Fabrik stelle kein Umweltrisiko dar. Bis am 2. Juli alle eines Schlechteren belehrt wurden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27./28. 7. 2002)