Spätestens seit Goethes und Heinses Tagen muss sich jeder deutsche Kulturmensch wenigstens einmal in Italien blicken lassen: Erst der Anblick der mediterranen Welt verschafft Kulturgenüsse, welche die starre Seele aufzusperren vermögen, sie verzücken und über die schnöde Setzung abstrakter Begriffe leichthin erheben.Nun ließ das italienische Bildungserlebnis, ein erfrischender Wust an Zitaten, die seine tätige Aneignung einer "toten" und abgelebten Kultur bezeugen, den nicht mehr ganz jungen Goethe dort am ergötzlichsten werden, wo er über Faustinas Reize handelte. Der Schlüssel zu Goethes künftiger Weltdeutung lag ganz gewiss auch im Bereich der sexuellen Stimulierung. Mit ihrer Hilfe gelangte der Reisende zur glücklichen Entfaltung seiner innersten Anlagen. Demgemäß wäre die adäquate Wahrnehmung antiker Baudenkmäler auch nur demjenigen möglich, der sich gegen die Freuden und Zumutungen der Lebenswelt nicht einfach blind versperrt, sondern in ihnen die fruchtbringende Verlockung erkennt. Auch darauf zielt das rastlose Kulissenschieben im klassischen deutschen Bildungs- und Entwicklungsroman, von Ardinghello bis Franz Sternbald: Mensch, werde wesentlich sinnlich! Hans-Ulrich Treichels Held Albert, ein zum Müßiggang berufener Kunststudent mit dem Themenschwerpunkt Caravaggio, erfährt seine sinnliche Erweckung tatsächlich in Rom - er sitzt auf der Pritsche eines Polizeibusses, staunt zu nächtlicher Stunde eine Polizistin mit dem Antlitz einer Madonna an, und gewahrt nicht ohne Bestürzung eine Erektion, welche seine Schlafanzughosen bauscht, als handle es sich bei ihnen um einen peripheren Ausläufer der Abruzzen. Mit der verächtlichen Zurechtweisung durch die römische Ordnungshüterin setzt sozusagen das sentimentalische Erziehungsprogramm eines jungen, unbedarften Bundesdeutschen aus dem Weser Bergland ("wo es immer regnet!") ein. Albert flüchtet Hals über Kopf zurück nach Berlin. Er bestaunt ehrfürchtig die entlegensten Bilddetails in Caravaggio-Gemälden wie dem "Amore vincitore": Mäander und Faltenwürfe, die untrüglich auf eine Ikonographie des Vaginalen hinweisen. Doch Alberts Studienversuche erweisen sich als eine Abfolge kleinerer Desaster. Albert, der sein besseres, wahres Ich im Körpergefängnis eingekerkert glaubt, ist auf zwerchfellerschütternde Weise "oversexed". Er lernt, nach einigen, fruchtlosen Bemühungen um seine körperliche Ertüchtigung, eine sardische Kellnerin kennen; verliebt sich naturgemäß Hals über Kopf in sie; folgt ihr, nach einigem Ungemach wegen eines (vielleicht eingebildeten) Konkurrenten, nach Sardinien, wo er sich im Hinterzimmer eines improvisierten Nagelstudios in die Sekundärliteratur der "Caravaggisten" ausgiebig zu vertiefen versucht. Natürlich vergeblich. Hans-Ulrich Treichels grandiose Bildungsreise handelt ja gerade vom Kollaps aller geläufigen Zuschreibungen, mit deren Weihen man für gewöhnlich das auswärtige Erweckungsserlebnis versieht. Denn das beflissen mitgebrachte "Merian"-Heft versenkt Albert alsbald in der Mülltonne. Die sardischen Frauen imponieren lediglich mit ihrer unvorstellbar dichten Körperbehaarung. Albert, dieser späte, in der grauen EU-Norm angekommene Bruder der sexbesessenen Thomas-Brussig-Helden, muss in kümmerlicher Heimarbeit am deutschen Spree-Strand nachholen, was ihm kein noch so romantisch gemaltes Außen an die Hand zu geben vermag. So mischt Treichel wiederum die Ebenen des falschen Scheins: Diese Abwandlung der romantischen Ironie bezieht ihren nicht geringsten Reiz aus einem Registerwechsel, den Treichel wie kein anderer deutscher Prosakünstler seiner Generation beherrscht. Im Wirrwarr der "sekundären" Lebensentwürfe gibt es eben keine Nische, kein Refugium, in dem das bildungsbürgerliche Zu-sich-Kommen noch am Platz wäre. Vielleicht liegt in der gänzlichen Uneigentlichkeit dessen, was ein Mensch in der Öffentlichkeit vorzustellen vermeint, die "wahre" Tragik eines ansonsten fremdbestimmten Lebens. Es ist das eine Tragik ganz ohne Herzenserguss und blind vergossene Tränen. Es ist ein Stück unsentimentaler Wahrheit. (ALBUM, DER STANDARD, Printausgabe, 27./28.7.2002)