Je näher der erste Jahrestag der schrecklichen Terroranschläge auf Amerika rückt, desto größer wird die hysterische Angst, dass sich etwas Ähnliches oder noch Schlimmeres ereignen könnte. Wie verständlich eine solche Furcht ist, kann nur begreifen, wer ähnliche Katastrophen erlebt hat - Kriege, Bombardierungen, Erdbeben. Aber wenn ich etwas nachdenke - wer hat das nicht erlebt? Welchem sicheren Land auf der Erde ist keine Zerstörung geschehen? Ich zum Beispiel wache noch immer dreimal wöchentlich morgens um zwei auf, wenn das Nachtflugzeug nach China fast lautlos über unseren Köpfen dahingleitet und mich an die Tage der Überflüge weniger freundschaftlicher Maschinen erinnert. Ich glaube, die ältesten Bewohner Berlins mögen es nicht, wenn es donnert, wenn ein Haus eingerissen wird oder etwas explodiert; sicher erinnern sie solche Geräusche für einen Moment an den Zweiten Weltkrieg. In Israel, dessen bin ich gewiss, wird niemand auf einen einsamen Jungen auf der Straße zugehen, ihn fragen, wo seine Eltern sind, was er so allein tut - aus Angst, das Kind könnte im nächsten Augenblick explodieren und sich und alle in der Nähe töten. Selbst Länder mit langen Friedenszeiten betrifft alle hundert Jahre eine Überschwemmung oder eine Unwetterkatastrophe oder ein Vulkanausbruch oder ein Einbruch an der Börse. Mit anderen Worten, jeder auf der Welt hat ständig Angst vor etwas. Jeder von uns hat Grund, um sein Leben zu fürchten. Aber darf diese Angst das Leben kontrollieren? In Amerika wird gerade, trotz Widerstands breiter Bevölkerungsschichten, eine neue Methode zur Verhinderung des Terrorismus eingeführt, namens Terrorism Information and Prevention System, abgekürzt TIPS. "Tips" bedeutet im Englischen Meldung, Denunziation, und in dieser zynischen Abkürzung verbirgt sich auch die wahre Natur des Systems. Danach wird man die Normalbürger alsbald auffordern, alles auszuspionieren - Nachbarn, Arbeitskollegen, Straßenpassanten, Verkehrsteilnehmer - und den Behörden jeden Verdacht zu melden. So werden sich, meinen die Erfinder, alle dem Kampf gegen den Terrorismus anschließen. Besondere Aufmerksamkeit gilt Postboten, Kurieren, Busfahrern, Klempnern, Elektrikern, Hafenarbeitern und allen, die viele Menschen kontaktieren, Wohnungen, Keller, Gärten betreten, die sich auf Parkplätzen und in Häfen aufhalten, die an Türen klingeln und, wenn ihnen geöffnet wird, über die Schulter des Hausherrn ins private Innere eines Heims blicken. All das geschieht zum Wohle aller, und hätte man eher damit angefangen, wäre es zum 11. Sep- tember gar nicht gekommen - meinen die Politiker, welche die Amateurspionage, den Angriff aufs Private, die Paranoia und die Rachsucht beim so genannten "kleinen Mann" anregen, auf den sich jeder Staat stützt. Für uns aus dem ehemaligen Osten ist das mit der Überwachung der Nachbarwohnung nicht unbekannt, es war Bestandteil der Utopie namens Realsozialismus, und ohne das wären die autoritären Diktaturen längst gestürzt worden. Dennoch ist uns auch die Subversion bekannt, der Kampf gegen das System, die Berufung auf die Menschenrechte und auf die positive Natur des Menschen. Wenn sich das System wirklich durch erniedrigendes Leben verteidigt, wozu dann so ein Leben? Oder: Wozu ein solches System? (DER STANDARD, Printausgabe, 18.7.2002)