Ankara - Das türkische Parlament hat am Montag Beratungen über vorgezogene Neuwahlen aufgenommen. Ministerpräsident Bülent Ecevit kündigte vor Mitgliedern seiner Demokratischen Linkspartei (DSP) an, er werde gegen die für den 3. November anberaumte Wahl stimmen. Der gesundheitlich und politisch angeschlagene Ecevit (77) hatte vor Beginn der Sitzung erklärt, er erwäge aber nicht zurückzutreten, um Neuwahlen auf diese Weise hinauszuzögern. Debatte über EU-Reformpaket Ecevit argumentierte, die negativen Folgen von Neuwahlen auf die Wirtschaft seien bereits sichtbar. Außerdem würden Neuwahlen islamistischen Parteien und kurdischen Separatisten in die Hände spielen. Auch könnten sie die für den angestrebten EU-Beitritt nötigen Reformen behindern. Umfragen zufolge kann Ecevits DSP, einst stärkste Kraft im Parlament, nicht einmal mehr sicher damit rechnen, die für einen Einzug ins Parlament erforderlichen zehn Prozent zu erreichen. Mit einer Entscheidung des Parlaments wird spätestens am Mittwoch gerechnet. Der erkrankte Ministerpräsident hatte sich nach langem Zögern mit seinen beiden Koalitionspartnern in diesem Monat auf Neuwahlen geeinigt. Anschließend sprach er sich aber mehrfach dagegen aus, die Wahlen bereits am 3. November abzuhalten. Zu der Sondersitzung des Parlaments hatten sich 451 der 536 Abgeordneten aus der Sommerpause zurückgemeldet. Für die Beschlussfähigkeit wären mindestens 184 erforderlich gewesen, ein Drittel der 550 Parlamentssitze. Große Mehrheit für Neuwahlen Die rechtsnationale Koalitionspartei MHP hatte die Sondersitzung beantragt. In der türkischen Nationalversammlung gibt es eine große Mehrheit für die Neuwahlen; regulär stünden erst im April 2004 Wahlen an. Ecevits zweiter Regierungspartner, Mesut Yilmaz von der konservativen Mutterlandspartei (AN), hatte zudem das EU-Reformpaket auf die Tagesordnung setzen lassen. Die Vorschläge von Yilmaz sehen unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe auch für Terrordelikte sowie mehr Sprachfreiheit für die Kurden vor. Mehrere türkische Zeitungen hatten am Morgen gemeldet, Ecevit denke an Rücktritt. Wenn der Ministerpräsident sein Amt aufgibt, darf das Parlament laut Geschäftsordnung keine Gesetze mehr verabschieden, bis eine neue Regierung im Amt ist. Ecevit sagte aber nach einer DSP-Fraktionssitzung, er trete nicht zurück. Dennoch werde die DSP weiter gegen die vorgezogenen Wahlen kämpfen. Größter Schuldner des IWF An den Märkten gelten Neuwahlen als Weg aus der politischen Krise und als Voraussetzung für politische Stabilität sowie weitere Hilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Türkei hatte mit dem IWF im Februar dieses Jahres ein Hilfspaket über 16 Milliarden Dollar geschlossen. Mit Krediten und Kreditzusagen über 30 Milliarden Dollar ist der NATO-Mitgliedstaat der größte Schuldner des IWF. Als Architekt des IWF-Hilfspaketes gilt Wirtschaftsminister Dervis. Er werde noch in dieser Woche der YTP (Neue Türkei Partei) beitreten, sagte deren Generalsekretär Istemihan Talay der Zeitung "Radikal". Auf die Frage, ob Dervis auch die Regierung von Ecevit verlassen werde, sagte Talay: "Ja, natürlich." Wenn die Regierung aber Dervis auffordere, trotz seiner Zugehörigkeit zu einer anderen Partei mit seiner Arbeit fortzufahren, werde die YTP nichts dagegen haben. "Es wäre dann so, als ob es einen vierten Koalitionspartner gebe." Dervis hatte Anfang des Monats seinen Rücktritt eingereicht, das Gesuch aber kurz darauf auf Bitte des Staatspräsidenten wieder zurückgezogen. Dervis unterhält enge Verbindungen zu dem früheren Außenminister Ismail Cem, der die Partei gegründet hat. (APA/AP/dpa/Reuters)