In einer Sondersitzung des türkischen Parlaments wurde am Montag beschlossen, das gesetzmäßig vorgeschriebene Verfahren für vorgezogene Wahlen einzuleiten. Der Antrag der mitregierenden nationalistischen MHP-Fraktion, das Parlament vorzeitig aufzulösen und am 3. November Wahlen abzuhalten, wurde dem Prozedere entsprechend in den Parlamentsausschuss für Verfassungsfragen verwiesen. Das Neuwahlgesetz wird voraussichtlich am Mittwoch endgültig im Plenum verabschiedet.

Ein weiterer Gesetzentwurf, ein so genanntes Gesetzespaket mit Reformen zur Annäherung der Türkei an die EU, der von der kleinsten Koalitionspartei, der Anap, eingebracht wurde, wurde ebenfalls an den zuständigen Justizausschuss überwiesen. Mesut Yilmaz, Anap-Vorsitzender und als stellvertretender Ministerpräsident für die Beziehungen zur EU zuständig, hatte im Vorfeld der Sitzung bei den anderen Parteien dafür geworben, vor einer Auflösung des Parlaments zunächst die EU-Reformgesetze zu verabschieden, da dies nach einem Auflösungsbeschluss nicht mehr möglich sei.

Mit diesem Argument konnte Yilmaz sich jedoch nicht mehr durchsetzen. Außer Ministerpräsident Bülent Ecevit, der vor seiner Fraktion am Montagmorgen noch einmal deutlich machte, dass er Neuwahlen eigentlich ablehnt, sind alle anderen Parteien entschlossen, mit Vorrang die Wahlen zu fixieren. Nicht zu Unrecht wird in den anderen Parteien vermutet, sowohl Ecevit als auch Yilmaz seien vor allem deshalb gegen vorgezogene Wahlen, weil alle Umfragen ihnen einen Tiefst- stand vorhersagen und beide Parteien derzeit die Zehnprozenthürde für den Wiedereinzug ins Parlament wohl nicht überspringen werden.

Mit der jüngsten Entwicklung dürfte nicht nur Ecevits Zeit abgelaufen sein, auch die EU-Ambitionen der Türkei drohen in den politischen Turbulenzen in Ankara unterzugehen. Die Verfassung sieht vor, dass Anträge zur Auflösung des Parlaments vor allen anderen behandelt werden müssen. Deshalb wird nun über Neuwahlen abgestimmt und nicht über die EU-Reformgesetze. Somit werden sich die Reformen selbst im Falle eines Wahlsieges der Pro-EU-Kräfte bis nach der Konstituierung einer neuen Regierung verzögern und auf jeden Fall für den EU-Gipfel in Kopenhagen im Dezember zu spät kommen.

(DER STANDARD, Printausgabe, 30.7.2002)