"Ein Fest für die Demokratie", titelte die Istanbuler Tageszeitung Radikal am Sonntag in großen Lettern und befand sich damit in bester Gesellschaft. Alle großen Zeitungen, Wirtschaftsverbände, kurdische Intellektuelle und Sprecher der christlichen Minderheiten sind sich einig: Der Samstag war ein historischer Tag für die Türkei. Als um 6 Uhr früh nach einer 16-stündigen Marathondebatte die Abgeordneten zur finalen Schlussabstimmung über das gesamte Reformpaket die Hände hoben, katapultierten sie die Türkei in eine neue Zeit.In einem für die neuere türkische Geschichte beispiellosen parlamentarischen Kraftakt wurde eine über zehn Jahre andauernde, sich immer wieder im Kreis drehende Debatte zu einem Abschluss gebracht - zu einem Zeitpunkt, als wirklich niemand mehr damit gerechnet hatte. Vor allem im letzten halben Jahr, nachdem durch die Zeitvorgabe aus Brüssel klar war, dass nun echte Entscheidungen fällig sind, eskalierte noch einmal der Konflikt um die Neuorientierung des Landes. Da Demokratie und Freiheitsrechte im gesellschaftlichen Diskurs eng mit der EU verknüpft sind, versuchten nationalistische Kräfte, eben die EU und ausländische Institutionen, die damit in Verbindung gebracht wurden, zu denunzieren. Im politischen Establishment schien es ein Patt zwischen Pro-Europäern und Nationalisten zu geben, das letztlich nur zur Fortschreibung des Status quo zu führen schien. Erst die durch den Gesundheitszustand von Premier Bülent Ecevit ausgelöste Regierungskrise Anfang Juli brachte wieder Bewegung in die politische Szene. Wenig Chancen Doch auch jetzt sah es zunächst noch nach einem Sieg der Nationalisten aus. Deren Vertreter, MHP-Parteichef Devlet Bah¸celi, war es, der die vorgezogenen Neuwahlen ins Gespräch brachte und letztlich auch seinen Zeitplan durchsetzte. Dem vom kleineren Koalitionspartner Anap ins Parlament eingebrachte Reformpaket gab zunächst niemand eine Chance, weil alle Kommentatoren davon ausgingen, dass nach einem Votum für Neuwahlen kein Abgeordneter sich mehr mit so weitreichenden Reformgesetzen befassen wollte. Doch wider Erwarten zeigten die vielgescholtenen Parlamentarier, dass sie doch noch mehr Kontakt zu ihren Wählern hatten als vermutet. Zwei Drittel der türkischen Bevölkerung, das zeigen alle Umfragen, wollen einen EU-Beitritt der Türkei. Und drei Jahre nach der Verhaftung Öcalans ist eine Mehrheit in der türkischen Gesellschaft auch zu einem Neuanfang mit Kurden, Armeniern, Griechen und anderen Minderheiten bereit. Friedensvertrag Diese gesellschaftliche Grundstimmung fand nach der De-facto-Auflösung der Regierung dann doch noch ihren Spiegel im Parlament. Eine breite Mehrheit der Parlamentarier erkannte, dass es auch für sie besser ist, vor den Wahlen über die Reformen abzustimmen. Das Echo gibt ihnen Recht. Die Entscheidung über die Abschaffung der Todesstrafe (die auch Öcalan wie alle anderen zum Tode Verurteilten, deren Todesurteil aber vom Parlament noch nicht bestätigt war, nun vor der Hinrichtung bewahren wird) und die Zustimmung zu kurdischen Medien und Unterricht in Kurdisch, macht nicht nur den Weg nach Europa frei, sondern ist vor allem ein symbolischer Friedensvertrag mit den Kurden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5.8.2002)