Zwei Tage, nachdem Chinas Verteidigungsminister Chi Haotian beim Pekinger Festakt zum 75. Gründungstag der Volksbefreiungsarmee betonte, dass China keinen Gewaltverzicht erklären wolle und sich die Option auf eine militärisch erzwungene Wiedervereinigung mit Taiwan offen hält, wenn seine Bemühungen um eine friedliche Lösung nicht fruchten, hat ein sichtlich verärgerter Präsident Chen Shui-bian gekontert.Taiwan und China seien "zwei Länder auf beiden Seiten der Taiwan-Straße. Das muss klar sein", sagte er in einer Videobotschaft an eine Versammlung von Auslands-Taiwanesen in Tokio. Taiwan lasse sich "nicht schikanieren, marginalisieren oder an den Rand drücken". Es sei "souverän" und "weder Teil noch die lokale Regierung oder Provinz von jemandem anderen. Aus Taiwan wird auch kein zweites Hongkong oder Macao werden." "Zwei-Staaten-Theorie" Der im Jahr 2000 zum Präsidenten gewählte Chen von der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei knüpfte damit wieder an die "Zwei-Staaten-Theorie" seines Vorgängers Lee Teng-hui an. Er forderte mit seinem Plädoyer für ein Referendum Peking zusätzlich heraus: Nur die 23 Millionen Menschen auf Taiwan könnten über ihre Zukunft entscheiden. "Das ist ihr grundlegendes Menschenrecht." Alle müssten "ernsthaft und dringlich nachdenken, die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Volksabstimmung zu schaffen". Chen, der Taiwan-Dialekt redete, rief am Ende emphatisch zu "einem eigenen taiwanesischen Weg" auf. Diplomatische Beobachter befürchten, dass "Taipeh und Peking am Status quo rütteln". Chen habe dabei eine unsichtbare Linie überschritten. Dies sei umso gravierender, als Chinas Parteiführer gerade ihren 16. Parteitag im Herbst vorbereiten und unter dem Druck von Armee-Hardlinern stehen. "Für die ist Chens Rede Wasser auf ihre Mühlen." Informierte Gewährsleute bestätigten, dass eine von 100 Militärs unterschriebene Petition in hohen Parteikreisen zirkulieren würde. Sie verlange, die "Strömung zur Unabhängigkeit" einzudämmen und US-Waffenlieferungen an Taiwan zu verdammen. "Leichtsinnige Rede" Peking hat kurz nach der Amtsübernahme Chens in seinen Weißbüchern über die Taiwanfrage und zur Landesverteidigung mehrere Entwicklungen beschrieben, die es zu kriegerischen Aktionen provozieren könnte. Darin heißt es: "Den Status von Taiwan als Teil Chinas durch eine Volksabstimmung zu ändern ist entschieden zu bekämpfen . . . Wer versucht, Taiwan durch eine so genannte Volksabstimmung von China abzutrennen, wird über die taiwanesische Bevölkerung nur Not bringen." Oppositionspolitiker auf Taiwan, wie der Präsident der Kuomintag-Partei (KMT), Chen Lien, und der Vorsitzende der kleinen "People First Party" (PFP), James Soong, kritisierten Chens Rede am Sonntag als "leichtsinnig und gefährlich". (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5.8.2002)