Brüssel/Wien - Die Verhandlungen zumindest mit einigen der zehn Kandidaten für die nächste EU-Erweiterungsrunde werden sich mit einiger Wahrscheinlichkeit über das Jahr 2002 hinausziehen. Darauf lassen jüngste Äußerungen der Chefverhandler von zwei Ländern und andere Indizien schließen. Und dies trotz guter Fortschritte, welche die dänische EU-Präsidentschaft vor der Sommerpause Ende Juli meldete.Bisher ging man davon aus, dass unter den Fixstartern für den anvisierten Erweiterungstermin 2004 vor allem Polen Schwierigkeiten haben würde, den Zeitplan einzuhalten. Das ist zwar nach wie vor nicht auszuschließen, doch hat Warschau soeben mit dem Abschluss des Kapitels Justiz und Inneres einen großen Sprung vorwärts gemacht. Die Polen sagten verstärkte Sicherung der Ostgrenze zu und wollen die Zahl der Grenzschützer bis zum Jahr 2006, dem geplanten Beitritt zum Schengen-Regime, von derzeit 5300 auf 18.000 erhöhen. Mit 26 abgeschlossenen von insgesamt 30 Kapiteln liegt Polen derzeit an dritter Stelle aller Kandidaten (gemeinsam mit Ungarn). Die dämpfenden Stimmen kommen indes von unerwarteter Seite. So warnte der slowakische Chefunterhändler Ján Figel nach Abschluss der jüngsten Runde vor überstürzten Verhandlungen: "Hastige Ergebnisse unter Zeitdruck dienen niemandem von uns." Figel bezog sich auf die Absicht der EU, bis Anfang November, nach dem "Erweiterungsgipfel" am 25. Oktober, ihre Position zu den schwierigen Finanzkapiteln (Budget, Landwirtschaft) festzulegen. Die Slowakei belegt derzeit mit 27 abgeschlossenen Kapiteln (gemeinsam mit Lettland) Platz zwei. Zuletzt wurde das Kapitel Regionalpolitik abgeschlossen, allerdings nur vorläufig, unter Ausklammerung des Themas Finanzhilfen aus den EU-Struktur- und Kohäsionsfonds. Bratislava will darauf zurückkommen, wenn die EU ihre konkreten Vorschläge zu den Beihilfen aus den Fonds vorlegt. Auch der tschechische Chefverhandler Pavel Telicka will, wie er in einem gemeinsamen Interview mit Figel für die Prager Zeitung Lidové noviny sagte, "nicht um jeden Preis" bis Jahresende abschließen. Für die Tschechische Republik sieht Telicka die Probleme vor allem in der Landwirtschaft. Prag liegt aber auch bisher mit erst 25 abgeschlossenen Kapiteln nicht sonderlich gut. Möglicherweise haben Telickas Worte vor allem innenpolitische Motive, da die Unterstützung der Tschechen für den EU-Beitritt laut Umfragen sinkt. An der Spitze aller Kandidaten liegen mit jeweils 28 abgeschlossenen Verhandlungskapiteln Slowenien, die baltischen Republiken Estland und Litauen sowie Zypern. Offen sind in allen Fällen die "heißen" Kapitel Budget und Landwirtschaft. Wann es hier ernst wird, hängt zunächst von der Regierungsbildung in Deutschland nach den Bundestagswahlen (22. September) und dann vom Ausgang des irischen Referendums über den EU-Vertrag von Nizza ab. Diese zweite Volksabstimmung (nach dem Nein im Vorjahr) soll auf jeden Fall nach dem Brüsseler Gipfel am 25. Oktober stattfinden. Danach wird es für die entscheidenden Schlussverhandlungen mit den Kandidaten auf jeden Fall knapp: Bis zum Kopenhagener Gipfel im Dezember, bei dem die Beitrittsverträge vorliegen sollen, bleiben weniger als sieben Wochen. Dies aber auch nur unter zwei Voraussetzungen: dass sich die EU-15 rechtzeitig auf gemeinsame Positionen bei Budget und Landwirtschaft einigen und die Iren diesmal mit Ja stimmen. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 6.8.2002)