Das riesige Brasilien ist ins Straucheln geraten. Die durch die Krise im Nachbarland Argentinien aufgeschreckten Anleger misstrauen der bei weitem größten südamerikanischen Wirtschaftsmacht und haben in den letzten Monaten 387 Millionen Dollar von der Börse abgezogen - mehr als im ganzen Jahr dort investiert wurde. Die Währung Real erreichte im Juli ein Rekordtief. Für einen Dollar waren kurzfristig 3,4 Reais zu zahlen, derzeit sind es 3,1. Im Juli stand man noch bei 2,8. Die Aktien fielen um durchschnittlich 17,9 Prozent im ersten Halbjahr 2002.Die Ratingagenturen stuften ihre Bewertung brasilianischer Schuldverschreibungen zurück, das Länderrisiko erreichte zeitweise 2400 Punkte, womit ein heftiger Zinsaufschlag auf staatliche Schuldscheine fällig wird. Die Zentralbank musste zur Stützung des Real dieser Tage erstmals Gebrauch von der Kredittranche in Höhe von zehn Milliarden Dollar machen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) dem Land schon vor Monaten vorsorglich eingeräumt hatte. Der südamerikanische Riese leidet zweifellos an den Folgen der Argentinien-Krise und an der schleppenden Konjunktur in Europa und den USA: Die Exporte nach Argentinien sind eingebrochen, die Arbeitslosigkeit hat mit 7,7 Prozent ein Zweijahreshoch erreicht, die industrielle Produktion ist unter der Last der hohen Zinsen um vier Prozent gesunken, die Inflation hat angezogen. Diese Zahlen alleine wären noch kein Grund zur Panik. Verschärfend kommt aber die Unsicherheit im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im Oktober hinzu. Denn in den Umfragen führt derzeit der ehemalige Gewerkschafter und Politiker der linken Arbeitspartei, Luiz Inácio da Silva - Spitzname "Lula". Dieser hat klassenkämpferische Parolen wie den Blaumann längst abgelegt. Trotzdem gibt es in Wirtschaftskreisen Ängste. Rechte Medien sprechen vom "Lula-Risiko". Investoren befürchten, dass Lula die Sparpolitik der jetzigen Regierung nicht fortsetzen und die 274 Milliarden Dollar Auslandsschulden (58 Prozent des Bruttoinlandsproduktes) nicht weiter abzahlen werde. "Hysterie" Und noch schlimmer: Der Zweitplatzierte der Umfragen, Ciro Gomes von der Sozialistischen Volkspartei, will die Schulden neu verhandeln, den IWF in die Schranken weisen und die Rüstungsindustrie verstaatlichen. IWF-Direktor Horst Köhler spricht von einer Vertrauenskrise politischen Ursprungs. Spätestens nach den Wahlen lege sich diese "Hysterie" wieder. Sicherheitshalber will der IWF nun aber doch noch einmal Milliarden lockermachen. Die USA versprachen Unterstützung für den Samba-Riesen in den Verhandlungen mit dem IWF. Denn in den vergangenen Wochen sah es aus, als könne nach Uruguay auch Brasilien fallen und die ganze Region erfasst werden. Wenn die Finanzierungskosten weiter hoch blieben, könnte der Schuldendienst gefährdet sein, so Antonio Carlos Colangelo von der brasilianischen Börse. Mehr als die Hälfte der Schulden sei in variablen Zinsen paktiert. Heuer sind alleine 7,9 Mrd. Dollar Rückzahlung fällig. Doch die "spekulative Attacke", wie die Regierung die Situation nennt, hat auch konkrete Hintergründe. Seit einem Jahr leidet das Land unter einer Energiekrise, Reformen fehlen. Oder die Hochzinspolitik und die restriktive Geldpolitik, die Investitionen bremst. Das BIP Brasiliens wird deswegen in diesem Jahr voraussichtlich nur um 1,5 Prozent wachsen. All dies kann zwar nicht Lula alleine angelastet werden. Dennoch ist er nicht unschuldig an der Unruhe. Einerseits beteuert er, Haushalts- und Inflationsziele der jetzigen Regierung nicht zu ändern und die Schulden weiter zu bedienen, andererseits verspricht er, mit dem "Wucher der internationalen Banken" Schluss zu machen, und lässt seine Partei den Bruch mit dem neoliberalen Modell ankündigen. (Sandra Weiss/DER STANDARD, Printausgabe, 8.8.2002)