Puccinis "Turandot" erstmals bei den Salzburger Festspielen mit dem neuen Schluss von Luciano Berio: Regisseur David Pountney setzt auf suggestiv-monströse Bilder mit dem Hang zu plakativem Überwältigungstheater, das Dirigent Valery Gergiev auf das Deftigste illustriert. Eine nur höflich beklatschte Materialschlacht. Salzburg - Der Einfluss des Zigarettenkonsums auf die Musikgeschichte ist noch weitestgehend ungeklärt. Nur im Falle von Puccini könnte man sagen, dass er einige sehr schöne Werke mit hervorbrachte, dann aber über den Umweg eines Kehlkopfkrebses Turandot unvollendet bleiben ließ. Schmerzgeplagt fuhr der Meister 1924 mit einigen Finale-Skizzen zur Therapie nach Brüssel und kam nicht mehr lebend zurück. Er hinterließ an die 30 Blätter, an die sich der spätere Werkvollender Franco Alfano kaum hielt. Den Rest besorgte Uraufführungsdirigent Arturo Toscanini, der Alfano zur Kürzung des von ihm etwas länger angelegten Finales bewog. So entstand ein Werkschluss, der Prunk, Puccini- Zitate und ein Lichtgeschwindigkeits-Happyend bietet. Den Werkerfolg hat er nicht verhindert, aber doch: Etwas zu hurtig bricht die Liebe zwischen Turandot und Calaf aus. Schließlich hat sich Liù kurz davor ins Jenseits begeben, da müsste doch mehr Platz sein für Trauerarbeit. Doch es mussten viele Jahre ins Land ziehen, bis sich der Verlag Ricordi entschloss, zurück an den Start zu gehen, in die 20er-Jahre, um einen neuen Schlussanlauf zu nehmen. Die neuerliche Vervollständigung Luciano Berio zu überantworten ist nicht nur vom Wissen geprägt, dass der Modernemeister originell mit bewährter Musik umzugehen versteht. Gerade sein Faible auch fürs Fin de siècle, als Mahler noch einmal eine differenzierte Welt erschuf und die Moderne die Tonalität zu begraben begann, spielten eine Rolle. Schließlich war Puccini ein interessierter Zeitgenosse. Er hat nicht nur Schönberg die Hand geschüttelt, nachdem er dessen Pierrot lunaire gehört hatte. In seinen Orchesterklängen ist Impressionismus drin und Kantig-Grelles, das in den harmonischen Tiefen an Mahler und Strawinsky gemahnt. Schöne Hypothese: Aus den 30 Blättern, an denen sich Berio orientierte, ließe sich nicht nur der unerfüllte Wunsch ablesen, einen Hauch von Wagners Tristan einzubringen. Wäre Lebenszeit geblieben, Puccini hätte sich mit dem Finale in die Moderne hineinkomponiert. Salzburg wäre ein schöner Ort für die Uraufführung gewesen. Nun war das konzertante Jus primae noctis der neuen Version indes Teneriffa vorbehalten und das szenische Amsterdam. Salzburg blieb nun noch die Ehre der österreichischen Erstaufführung plus Neuinszenierung, wobei man sich schon beim ersten Bild der David-Pountney-Inszenierung fragt, wie das Ganze die Kurve vom Gigantismus zur finalen Intimität der Schlussneuheit glaubwürdig kratzen will. Pountney klotzt zunächst, als ginge es darum, sich in Hollywood für eine Neuverfilmung von Ben Hur zu empfehlen. Gegen seine Armee der Effekte gibt es keine Gegenwehr. Aber es ist Überwältigung an der Grenze zur Belästigung. Pountney nutzt die ganze Breite und Höhe der Bühne. Die Tiefe hebt er sich für die Prinzessin auf, die aus einem sich öffnenden Riesenkopf als turmhohe Skulptur, umgeben von einer Steinarmee, erscheint. Schönes Bild. Das Zentralorgan

Ganz nahe an die Rampe rückt er eine mehrstöckige Metallkonstruktion mit Zahnrädern, die ein Heer von zackigen Robotermenschen bevölkert. Hier herrscht Uniformität. Man sieht eine Art archaische Fabrik, einen Organismus aus zusammengeflickten Figuren, deren mörderisches Zentralorgan die Prinzessin ist. Die linke Hand der Minister ist entweder eine Kettensäge oder ein Schraubstock. Effekttheater, das der Musik auch nutzt: Der Chor erreicht hier am Anfang ziemliche Unmittelbarkeit, wenngleich nicht immer Sauberkeit des Gesanges. Und die zackigen Bewegungen der Massen lassen sich aus der maschinell tönenden Musik Puccinis durchaus herauslesen. Indes ist das Knallige eben nur ein Teil des Puccini-Ganzen. Doch die intime Ebene erstarrt bei Pountney zum mitunter kläglichen Rampentheater. Allen voran legt Johan Botha als Calaf einfach einen guten Arienabend hin, als hätte ihn Pountney übersehen. Gabriele Schnaut ist als Turandot immerhin alles andere als eine erstarrte Figur, leidend, gefangen und gesanglich von dramatischer Durchschlagskraft. Ansonsten hat man das Gefühl: Pountney kann mit Robotern umgehen, deren Menschwerdung misslingt. Das bezieht sich auf die dürftige Szene, wenn Ping (Baaz Daniel), Pang (Vicente Ombuena) und Pong (Steve Davislim) als Operettentrio im Blumenbildambiente von der Heimat träumen. Das bezieht sich auch auf den Schluss, da sich alle auf leerer Bühne, nun von allen Robotergeistern verlassen, umarmen und liebhaben. Wie das Pärchen an der Rampe. Dieser Schluss hat nur den Vorteil, dass man sich auf Berios Musik konzentriert. Immerhin gelingt Pountney Liùs (vokal am überzeugendsten Cristina Gallardo-Domas) Selbstmordszene, die zu einer halben Mordszene wird - Turandot hilft hier nach. Berio vermeidet jeden Hang zum Prunkhaft-Kulinarischen, baut ein dramaturgisch hilfreiches Zwischenspiel ein und nimmt vom Libretto nur jene Stellen, die auch in den Skizzen von Puccini Verwendung finden. Es dominieren nachdenkliche Farben. Die Zuneigung kommt hier auf harmonisch freitonalen Sohlen daher, die Idylle bleibt ambivalent und pessimistisch. Statt satte Steigerungen kurze Orchesterausbrüche - Puccini geht hier durch den Filter des 20. Jahrhunderts, Nessun dorma- Anklänge gehören der Trompete. Ein echter Giacomo Berio. Dass man ihn noch deutlich und detailvoll hörte, ist ein Wunder. Valery Gergiev agierte zuvor mitunter als ekstatischer Baustellenleiter, wodurch das Orchester für das Gesangsgebäude zur akustischen Abrissbirne wurde. Auch Wucht muss nicht zum Pauschalsound führen. Man kann auch gelassener das Moderne bei Puccini betonen. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.8.2002)