Die Berge sind das Höchste für mich. Das Höchste der Gefühle sozusagen. Wenn ich so auf einen Gipfel zufahre, fühl ich mich großartig. Kein bisschen klein. Ich finde das schön, wie die Berge im Weg stehen. Und andererseits: Glauben Sie etwa, der Berg selbst fühlt sich im Weg? Bloß weil immer alle ans Meer wollen. Wieso überhaupt? Meer ist weniger, sage ich Ihnen. Schon möglich, dass das Meer mehr Tiefgang hat. Aber was hat man denn schon davon? Wo doch alle immer nur an der Oberfläche bleiben oder am liebsten überhaupt nur am Rand. Es geht ihnen ja nicht um „Der alte Mann und das Meer“. Es geht doch nur um „Irgendwas unter Palmen“. Sie wollen ja alle ans Meer, nicht aufs Meer. Ich hingegen will natürlich auf den Berg. Ich will hoch hinaus, weil ich ihn eben liebe, den Berg. Das Meer aber, ist bloß Herumliegen und in die Ferne schauen. Weit und breit nichts, woran sich der Blick festhalten kann. Das liegt mir nicht. Ich brauche Widerstand. Ich will nicht, dass man sich dermaßen vor mir ausbreitet. Aber sie fliegen darauf. Genau darauf: auf diese bodenlos oberflächliche Darbietung von scheinbarer Unergründlichkeit. Ehrlich, da ist mir jeder Gebirgsbach mit Charakter lieber. Der liegt nicht so gelangweilt herum wie das Mittelmeer. Mittelmeer – der Name sagt doch schon alles. Kennen sie Club Med? Da wollte sie auch schon mal hin. Aber so tief bin ich noch nicht gesunken. Club Med – das klingt nach Zahnpasta oder Ärztekammer. Sie haben es vielleicht schon bemerkt: Ich habe dieses Meer-Problem vor allem wegen ihr. Von Anfang an wollte sie immer nur ans Meer. Und was symptomatisch ist: Sie hat sich immer durchgesetzt. Auf diese erodierende Weise. Und auch in diesem Jahr. Schau nur, sagte sie Ende April, schau nur, mein neuer Bikini. Das sollte ich mal machen, aus dem Alpin-Shop und meine neue Kletterausrüstung vorführen. Und dann schmiegt sie sich an mich in dem neuen Bikini und flüstert mir wieder mal was von Liebe in Wellen zu. Dabei hatten wir noch nie Liebe in Wellen. Das sind doch Teenagerphantasien der Blaue-Lagune-Generation. Zuviel Sand im Getriebe der Leidenschaft. Es geht einfach nicht. Es ist kein Wunder, dass Arielle ein Meer-Jungfrau ist. Meer und Sex – das passt überhaupt nicht zusammen. Aber das ist ihr egal. Für sie sind empirische Erhebungen auch nur so was wie Berge. Was ich auch sag oder tu, sie umspült mich einfach und selbst wenn ich ihre sanften Wellen breche, die Erosionswirkung ist dennoch da. Das Meer, das spiegelt nämlich unsere Beziehung wider. Wie das Meer ja überhaupt alles ungefragt widerspiegelt. Ob Sonnenuntergang oder Schiffchen: Alles sieht aus wie ein alberner Rohrschachtest. Meine Freundin jedenfalls ist wie das Meer. Sie zieht sich zurück, dann schwappt sie wieder über mich und überflutet mich mit Liebe. Wenn Ebbe ist, warte ich. Ich gehe ihr nicht entgegen. Ich will doch nicht ertrinken. Und außerdem weiß ich auch so, dass sie wiederkommt. Das hängt ja sowieso alles irgendwie mit dem Mond zusammen. Mal ehrlich, haben Sie schon mal einen Berg gesehen, der sich zurückzieht? Eben nicht. Ein Berg hält Stand. Auch dann, wenn es Sturm gibt. Das Meer hingegen macht alles noch schlimmer. Und das Schlimmste überhaupt ist, dass sich das Meer langfristig durchsetzt. Wissen Sie, was das bedeutet: die langsame Unterhöhlung der Berge. Bis sie abgetragen werden. Und es steigt. Das Meer steigt und zwar zunehmend schnell. Sie können sich ja vorstellen, wo das hinführt. Das einzig Gute ist, dass wir dann wenigstens nicht mehr ans Meer zu fahren brauchen...