In guter babylonischer Tradition sprechen alle über neue Turmhöhen in Wien-Mitte. Am Projekt und seinen städtebaulichen Chancen auf Erfolg wird nicht gezweifelt - zu Recht? Das kontroversielle Projekt Wien-Mitte der Architekten Ortner & Ortner hat sich bei der kürzlich erfolgten Vorstellung im Architekturzentrum Wien als eigentlich enttäuschend entpuppt. Hoffentlich kann es nach der Fertigstellung durch gelungene Innenräume überzeugen; von außen versucht es eher durch eine merkwürdige Spielart von Gigantomanie zu beeindrucken. Im Endeffekt wird wohl am Standort Wien-Mitte ganz einfach ein einfallsloser 60er-Jahre-Klotzbau durch einen leider nicht viel einfallsreicheren 90er-Jahre-Klotzbau ersetzt. Der Unterschied ist der Maßstab, nicht die Qualität. Dass in den Medien jedoch nur Ersterer, nicht aber Zweitere diskutiert wird, ist bedauerlich. Würde man - wie immer wieder gefordert - die geplanten Türme um je zehn Meter verkürzen, so würde der Bau an sich um nichts sinnvoller oder architektonisch besser; es wäre einfach ein gleichartiger, um zehn Meter niedrigerer (und eventuell etwas unproportionalerer) Bau. Warum dadurch der Status "Weltkulturerbe" erhalten bleiben soll, bleibt schleierhaft, noch dazu wo in unmittelbarer Nähe mit dem RZB-Gebäude, dem Hilton, dem W3-Kino, der Landstraßer Markthalle, dem statistischen Zentralamt und dem Amtsgebäude in der Zollamtsstraße (vulgo "Kachelofen") schon eine Vielzahl nicht gerade beeindruckender Beispiele Wiener Baukunst herumstehen. Städtebaulich ist der Bereich Wien-Mitte ohnehin einigermaßen, um es salopp zu sagen, vermurkst. Durch Wienfluss, Stadtpark und einen Riegel undurchdringlicher (oben erwähnter) Großbauten vom Rest der Stadt getrennt, gibt es keine wirklich durchgehenden Straßenzüge. Die Stadt wird aber durch das Sich-Bewegen in ihr wahrgenommen, und somit ist, seitdem in den 80er-Jahren auch noch einige der ehemals durchgehenden Straßenbahnlinien eingestellt wurden und damit der Bereich Wien-Mitte die Oberflächenverbindung zur restlichen Innenstadt völlig verloren hat, die Gegend langsam aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden - das Einzige, was man kennt, ist gerade noch die heruntergekommene U-Bahn-Station, aber für die meisten Wiener ist der dritte Bezirk, wie ich als langjähriger Bewohner feststellen musste, ein völlig unbeschriebenes Blatt. Die Umsteigestation Auch das anhaltende Geschäftesterben in der Landstraße seit der Einstellung der Straßenbahn weist darauf hin, dass die Gegend immer weniger wahrgenommen wird. Wien-Mitte hat sich über die letzten 20 Jahre von einer Aussteigestation, also einer städtischen Destination, einem "Ort", zu einer typischen Umsteigestation, einem, wenn man so will, "Unort", gewandelt. Abgesehen von der üblen Bausubstanz des bestehenden Gebäudes wird gerade dies von den Befürwortern des Projekts Wien-Mitte am lautesten als Argument ins Treffen geführt: Durch die Schaffung eines öffentlichen Raumes (Bahnhof, Einkaufszentrum, Urban Entertainment Center) würde diese Gegend maßgeblich aufgewertet. Das kann sein, muss aber nicht sein. Wie das Beispiel des gegenüber liegenden W3-Kinocenters zeigt, dessen Betreiber bereits offen über einen Rückzug sprechen, ist Wien-Mitte für urban entertainment wie auch als Standort für ein Einkaufszentrum auch aus oben erwähnten stadtstrukturellen Gründen kein so guter Standort, wie man vielleicht glaubt. Die Bevölkerung in diesem Bereich des Bezirkes ist alters-und einkommensmäßig derart strukturiert, dass kein besonderes Interesse an einem "Urban Entertainment Center" besteht (sogar McDonald's scheiterte beim Versuch, in der Nähe des Rochusmarktes Fuß zu fassen); von der übrigen Wiener Bevölkerung wird die Gegend so wenig wahrgenommen, dass sie sicher nicht auf die Idee kommt, hier statt in der nahe gelegenen Innen-stadt oder der Mariahilfer Straße einzukaufen. Zu hoffen, dass ein eindrucksvoller, groß dimensionierter Bau allein schon Kundschaft anzieht, hat sich oft, zuletzt beim Gasometer, als Wunschdenken herausgestellt. Ich denke, der Bauträger weiß das auch. Der Neubau des Bahnhofes und des Urban Entertainment Centers ist bis zu einem gewissen Grad sicher ein mediales Feigenblatt, um die Zustimmung der Bevölkerung zu sichern. In Wirklichkeit geht es primär um die Schaffung von profitablem Büroraum in zentraler Citylage; darauf hin ist das Projekt optimiert, und das erklärt, warum so groß und so hoch gebaut werden soll. Über die Ästhetik der Größe kann man nun geteilter Meinung sein, aber die Größe liegt in der Natur dieses Projektes. Die Frage sollte demnach eigentlich sein: Wollen wir überhaupt das Eindringen von Bürohochhäusern, die sich bislang eher in der Peripherie befunden haben, in die historische Innenstadt? Wenn ja, dann dürfen wir uns nicht beschweren, dass diese nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, also ziemlich groß dimensioniert, gebaut werden. Eine Kürzung der Wien-Mitte-Türme um zehn Meter ist für den Bauträger ebenso uninteressant, wie es für die Beibehaltung des Weltkulturerbes irrelevant ist. Die zweite Frage ist, ob das Projekt Wien-Mitte überhaupt geeignet ist, den Standort städtebaulich aufzuwerten, oder ob es dafür nicht bessere Möglichkeiten gegeben hätte. Vielleicht sind Ortners Türme in 40 Jahren genauso heruntergekommen wie Wien-Mitte heute. Wie schon beim Turmbau zu Babel entscheidet nicht die Größe über den Erfolg des Projektes, sondern die Sinnhaftigkeit der dahinter stehenden Absicht. Die wird nur leider nicht diskutiert. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.8.2002)