Chris Bird, Designchef-Europa von Ford, meint es natürlich nicht ganz ernst, wenn er sagt: "Autodesigner haben ein Problem. Sie denken nur an vier Räder und die Karosserie drumherum." Aber ein Fünkchen Wahrheit steckt in diesen Worten schon - nicht zuletzt weil sie im neuen Ford-Designstudio in London fallen. Denn bei "ingeni", so der Name des kürzlich eröffneten Studios, sitzen an Skizzen für neue Automodelle nicht nur Autodesigner, sondern auch Mode-, Produkt- und Möbeldesigner. Und sie alle entwerfen außer Autos auch Brieftaschen, Gläser, Schuhe oder Handys.Das "ingeni"-Gebäude, sechs Stockwerke hoch, mit einer großen Glasfassade, die in der obersten Etage einen traumhaften Blick über die Stadt bietet, liegt inmitten des quirligen Stadtteils Soho mit seinem Mix aus Banken, Bordellen, Märkten und Szeneläden. So gemischt wie die Gruppe der Designer, die hier arbeiten: 35 Designer aus 15 Nationen, der jüngste ist 22, der älteste 35 Jahre. Vor "ingeni" arbeiteten die Kreativen an MP3-Playern, Snowboards, Handys oder Flugzeugsitzen. Ihre Aufgaben nun: dem Stil der acht Ford-Marken (darunter Volvo, Jaguar, Aston Martin und Mazda) weitere Richtungen zu geben, Lifestylegüter für sie zu entwerfen und Produkte für Kunden aus anderen Branchen zu designen. Eine eigene "ingeni"-Handschrift ist nicht erwünschtes Ziel, stattdessen wird jede Marke vor dem kreativen Prozess analysiert, sodass ein zu ihr passendes Produkt entsteht. Mit dem neuen Studio will Ford vermeiden, dass die Mitarbeiter in eingefahrenen Bahnen denken und arbeiten. Stattdessen sollen sich in der Londoner Kreativschmiede die jungen Designer gegenseitig beeinflussen, ihre Ideen diskutieren und voneinander lernen. So neu ist diese Arbeitsweise nicht und hat unter dem Schlagwort interdisziplinäres Arbeiten etwa in der Wissenschaft längst Einzug gehalten. Doch in der europäischen Automobilbranche ist sie unüblich. Für Chris Bird hieße solch kreativer Austausch beispielsweise, dass sich der Autodesigner nicht nur den vier Rädern und dem Äußeren widmet, sondern - mit dem Team - auch dem Innenraum. Farben, Materialien, Musik: Auf das Innere des Autos als Gesamterlebnis müsse sich das designerische Augenmerk in Zukunft richten. Einer von denen, die den Designhorizont erweitern sollen, ist Michael Tropper. Der 25-jährige Produktdesigner aus Graz entwirft Show Cars - Autostudien für Messen - und Markenprodukte für Volvo wie Picknickdecken oder Schlitten. Was ihn von einem Autodesigner unterscheidet? "Autodesigner denken eher an das Styling von Flächen. Überspitzt gesagt überlegen sie, wie sie aus dem Vorgängermodell ein neues schaffen. Produktdesigner haben eine andere, mehr ganzheitliche Herangehensweise. Sie denken über den Nutzer des Produktes nach, bevor sie überhaupt Ideen skizzieren." Das kann auch schon mal dazu führen, dass Tropper am Anfang eines neuen Projekts einen Comic zeichnet, anstatt eine herkömmliche Skizze abzuliefern. In London zu arbeiten ist für junge Menschen wie ihn natürlich reizvoll, und so fällt es den Ford-Verantwortlichen auch nicht schwer zu betonen, dass sich der Design-Einfluss aus Italien verringert habe. Jetzt sei London Mittelpunkt einer großen Gruppe junger Menschen, die designorientiert leben. Und diese Tatsache gelte es für "ingeni" ebenso zu nutzen wie die große Spanne kultureller und sozialer Einflüsse in der Stadt. Arbeitsplatz von Michael Tropper und seinen Kollegen ist ein großer, heller Raum im vierten Stock. Neben Computern findet sich auf den in langen Reihen aufgestellten Tischen herkömmliches Handwerkszeug von Designern: Papier, Skizzen, Farbpaletten, Stifte, Kreide, Scheren. Das kreative Umfeld bestimmen weiter Regale mit Stoffen, Plastik, Metallen und Steinen, nebenan lagern Produkte vom Teddybär über Taschen bis zum T-Shirt. An Flipcharts hängen Skizzen für neue Automodelle, Eiskratzer, Wanderschuhe. Und über allem liegt leise Loungemusik. Ein Stockwerk höher arbeitet man ausschließlich am Computer, hier werden die gezeichneten Designentwürfe dreidimensional umgesetzt. Die Daten dieser virtuellen Modelle können mittels vernetzter Rechner in andere Studios der Ford-Gruppe übertragen werden. Dort werden sie auch gebaut und getestet. Bei "ingeni" selbst sucht man Autos vergeblich: Es gibt keine. Ein Wort fiel bei der Eröffnung des Ford-Studios besonders häufig: Ungewöhnlich sei es für die Automobilbranche, dass die Designer auch mal einen halben Tag in London unterwegs sind, um Eindrücke zu sammeln. Ungewöhnlich, dass Designer mit derart verschiedenen Hintergründen zusammenarbeiten, und ungewöhnlich, wie schnell manche Produkte entstehen. Das Besondere zu betonen ist natürlich Teil der PR, aber etwas schwingt darin auch die Unsicherheit mit, ob das Projekt wirklich funktioniert. Die US-amerikanische Konzernmutter ist dafür bekannt, dass vor allem die Finanzen stimmen müssen. Gut ist ein Design dann, wenn es sich gut verkauft. Und damit "ingeni" profitabel arbeitet, wird nicht nur Designarbeit für Fremdfirmen übernommen, sondern auch der Tagungsraum im sechsten Stock für Events vermietet. Nun sind Merchandising-Produkte wie Regenschirme oder Kappen, die für die Ford-Gruppe designt werden, in der Autobranche kein Novum. Doch dafür werden diese Güter nicht wie sonst nur bei Autohändlern zu kaufen sein. Welche Erzeugnisse außerhalb der Ford-Markenwelt die "ingeni"-Crew produzieren wird, darüber schweigt man aus Rücksicht auf die beteiligten Firmen. Lediglich ein Produkt wird verraten: Gitarren. Der Name des Studios spiegelt zumindest den Anspruch wider, den "ingeni" zu erfüllen hat: Das englische "ingenious" bedeutet erfinderisch, genial. Dass Deutschsprachige "ingeni" eher mit Ingenieur assoziieren, ist zwar nicht im Sinne der Namensgeber, aber so schlimm auch nicht. Stammen doch letztlich sowohl das englische als auch das deutsche Wort vom lateinischen ingenium ab. Heißt: natürliche Begabung, Erfindungsgeist. (derStandard/rondo/Mareike Müller/9/8/02)