Ankara - Mit dem Rücktritt von Wirtschaftsminister Kemal Dervis ist das Kabinett des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit drei Monate vor der vorgezogenen Parlamentswahl weiter zerfallen. Dervis gilt als Architekt des Reformprogramms, das die Türkei aus der schweren Wirtschaftskrise führen soll. Zum Nachfolger von Dervis ernannte Ecevit am Samstag Masum Türker, einem bisher weithin unbekannten Abgeordneten der Demokratischen Linken (DSP).Dervis rief die zerstrittenen Mitte-links-Parteien Dervis rief die zerstrittenen Mitte-links-Parteien zur Zusammenarbeit auf und regte eine liberale Koalition an: "Es ist noch nicht zu spät für ein Bündnis." Ecevit soll Dervis, einen der populärsten Politiker des Landes, am Freitag ultimativ aufgefordert haben, sich zwischen seinem Ministeramt und einer parteipolitischen Betätigung zu entscheiden. "Nach einer Bewertung der Lage trete ich jetzt zurück", erklärte daraufhin der parteilose Dervis am Samstag. Er unterstützt eine neue Partei um den im Juli zurückgetretenen Außenminister Ismail Cem, führte in den vergangenen Wochen aber auch Gespräche mit anderen liberalen, pro-europäischen Politikern. Bündnis prowestlicher Kräfte Sein Ziel ist ein Bündnis prowestlicher Kräfte, das einen Sieg der islamistischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) von Tayyip Erdogan bei der Wahl am 3. November verhindern könnte, sagte Dervis. Er hoffe auf eine Einigung seines Lager bis zur Wahl. Dervis warnte vor Gefahren für die erhofften EU-Annäherung der Türkei und die Bemühungen um eine wirtschaftliche Erholung, sollte es bei den Wahlen zu einer Zersplitterung der Stimmen kommen. Bei der Wahl werden voraussichtlich 23 Parteien antreten, allerdings könnten viele Parteien an der Zehn-Prozent-Hürde scheitern, darunter möglicherweise auch die dem gesundheitlich schwer angeschlagenen Regierungschef Ecevit noch verbliebenen Sozialdemokraten. Zahlreiche Mitglieder seiner Demokratischen Linken (DSP), darunter auch mehrere Minister, sind mittlerweile zu Ex-Außenminister Cem und seiner Partei Neue Türkei übergelaufen. Mitarbeit von Dervis Cem erklärte, seine Partei würde von der Mitarbeit von Dervis profitieren. Dervis habe seine Haltung zur Partei Neue Türkei bereits früher deutlich gemacht. "Im Einklang mit seinen früheren Äußerungen wird sein Mitwirken einen neuen Schub der Neuen Türkei geben, die bereits schnell wächst", teilte Cem mit. Dervis hat enge Beziehungen zum Internationalen Währungsfonds (IWF), der die Türkei mit Krediten in der Höhe 31 Milliarden Dollar (31,9 Mrd. Euro) unterstützt. Er hatte bereits im Juli seinen Rücktritt eingereicht, diesen nach wenigen Stunden aber wieder zurückgezogen. Ecevit betonte, dass der neue Wirtschaftsminister die Politik von Dervis fortsetzen werde. Der Rücktritt von Dervis werde keine Probleme bereiten, da das Reformprogramm nicht von einzelnen Personen abhängig sei. Beobachter erwarten von dem Rücktritt keine größeren Auswirkungen an den Finanzmärkten, da der Schritt erwartet worden war. Cems Partei Die Gründung von Cems Partei Neue Türkei war eine Reaktion auf die Erfolge der AKP, die derzeit die Umfragen mit etwa 20 Prozent Zustimmung anführt. Bei einem Wahlsieg der Islamisten werden in Ankara weit reichende politische Auswirkungen befürchtet. In dem mehrheitlich moslemischen Land wacht die Armee streng über die Trennung von Kirche und Staat. Ein Wahlsieg pro-europäischer Kräfte gilt auch als Voraussetzung für die weitere Annährung der Türkei an die EU. Erst Anfang August beschloss das Parlament in Ankara ein Reformpaket, das unter anderem die Abschaffung der Todesstrafe, eine Stärkung der Demokratie und mehr Rechte für die kurdische Minderheit vorsieht. (APA/AP/AFP/Reuters)