Die Abwahl von Gerhard Schröder und der ersten rot-grünen Bundesregierung in Deutschland, so wird man später vielleicht sagen, hat sich Anfang August entschieden: Mit der Veröffentlichung der Arbeitslosenzahlen vergangenen Mittwoch (4,047 Millionen) und der gleichzeitigen Demontage der Hartz-Kommission (welche eine Arbeitsmarktpolitik ersinnen sollte, die der weithin unbekannt gebliebene Bundeswirtschaftsminister nicht zu entwerfen vermochte) durch ihre Kritiker erreichte der Wahlkampf der SPD den "point of no return", bevor er noch überhaupt richtig begann. Könnte man sagen.Das Ende von Schröders Kanzlerschaft wäre eine politisch-kulturelle Revolution für Deutschland, wo Parteien nicht unter zehn Jahren zu regieren pflegen. Denn die Deutschen mögen bekanntlich Kontinuität: Zwei Jahrzehnte hindurch stellte die CDU unter Adenauer, Erhard und Kiesinger den Kanzler, 13 Jahre die Sozialdemokraten mit Brandt und Schmidt, 16 Jahre wieder die CDU mit Kohl. Und Schröder erhielte nach nur vier Jahren seine Entlassungs- urkunde? Ein Blick nach Frankreich muss die Genossen frösteln lassen. Dort ist die Linksregierung von Lionel Jospin bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühjahr spektakulär gescheitert, trotz reformerischen Elans und ungewöhnlich langer Beliebtheit des Premiers. Berlin, so ließe sich einwenden, ist nicht Paris, wo Politik und Parteien beweglicher sind, Premiers je nach Stimmung im Land kommen und gehen und lange Regierungszeiten wie die von Jospin (1997-2002) die absolute Ausnahme sind. Doch französische Verhältnisse sind in Wahrheit in Berlin längst eingezogen. Die Revolution der politischen Kultur in Deutschland hat schon begonnen: Nie stand das Überleben einer Bundesregierung nach nur einer Legislaturperiode so sehr auf Messers Schneide - die große Koalition von 1966, die auch nur eine Amtszeit hinter sich brachte, zählt nicht; sie war von Beginn an nur als Übergangslösung gedacht. Auch der Wahlkampf zu Wasser (PDS kreuzt mit der "MS Socialist"), zu Land ("Guido-Mobil", "Joschka on Tour", der SPD-Truck) und in der Luft (Möllemann springt wieder) setzt neue Maßstäbe und will die ohnehin hohe Vorlage der "Kampa" von 1998 noch übertreffen: Ein TV-Duell der beiden Kanzlerkandidaten nach französisch-amerikanischem Modell, wie es zunächst am 25. August über die Bildschirme gehen wird, hat es in Deutschland nie zuvor gegeben. Auffallend ähnlich wie im französischen Wahlkampf gibt es eine voyeuristische Lust der Deutschen, dem Untergang der Mächtigen beizuwohnen. "Die Wahl ist offener, als sie aller Logik nach sein müsste", notierte Jospins Europaminister und Wahlkampfstratege Pierre Moscovici bereits ein Dreivierteljahr vor dem ersten Votum in einem Memorandum. Jospin saß so fest im Sattel, wie es Schröder heute sein sollte. Doch beide waren nicht auf den Überdruss der Zuschauer gefasst. Die Reformprojekte der ersten Amtsjahre - 35-Stunden-Woche, Jugendbeschäftigung, "Zivil-Ehe" für Jospin; neues Staatsbürgerrecht, Steuerreform, Homo-Ehe, Atomausstieg für Schröder - zählen vor dem Wahltag wenig. Und die neuen Koalitionen, "mehrfarbige Linke" in Paris, Rot-Grün in Berlin, nutzen sich ab. Schröders Niederlage mag sich Anfang August entschieden haben: Doch man sollte die Geschichte vom Ende lesen. Frankreich erlebt seit der Rückkehr der Bürgerlichen unter Premier Jean-Pierre Raffarin einen konservativen Rollback. Neue Gummigeschosse für die Polizei und Haftstrafen für Schüler, die ihre Lehrer beleidigen. Das Ganze verbrämt mit der Formel der "Bodenständigkeit". Wollen die Deutschen das? Ihr Bewusstsein hat sich verändert. Schröders rot-grüne Regierung hat einen Wandel bewirkt, der sich in den Umfragen kaum niederschlägt - den gesellschaftlichen Klimawechsel in Deutschland, der nach der Vereinigung ausgeblieben war. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.08.2002)