Standard: Wer wird die Wahl in sechs Wochen gewinnen? Güllner: Der Wählerwille ist noch nicht richtig erkennbar. Es gibt keine Wechselstimmung. Es ist eine Konstellation, die einzigartig ist: Wir haben einen populären Kanzler, dessen Problem die Partei ist. Die Union hat die Reihen geschlossen, hat aber Probleme mit dem Kandidaten. Eigentlich wollen die Deutschen eine CDU-geführte Regierung mit einem Kanzler Schröder. 1998 war eine lustvolle Wahl, jetzt wird es eine lustlose, wie man schon am Wahlkampf sieht. Stoiber ist keine Alternative zu Schröder, wie dieser ein Antitypus zu Helmut Kohl war. Er ist auch kein Hoffnungsträger, wie es Schröder 1998 war. STANDARD: Hat die SPD, die in Umfragen sieben Prozentpunkte hinter CDU/CSU liegt, überhaupt noch eine Chance? Güllner: Es ist nicht ausgeschlossen. Dieses Rennen ist nach wie vor offen. Zwischen 25 und 30 Prozent sind noch unentschieden. Die Union hat ihr Reservoir ausgeschöpft. Wenn die Wahlbeteiligung deutlich niedriger ist als 1998 und bei 75, 76 Prozent liegt, dann hat die SPD verloren. Dann ist es ihr nicht gelungen, Reserven zu mobilisieren. Eines der großen Probleme ist, dass Schröder die SPD nicht verändert hat. Das rächt sich jetzt. Wenn er die Wahl gewinnen sollte, wird das eine der Lehren sein, dass er sich mehr der SPD widmen soll. STANDARD: Warum ist eine mögliche Irak-Intervention zu einem Wahlkampfthema geworden? Güllner: Ich glaube, dass Schröder noch einmal daran erinnern wollte, dass er in der Außenpolitik eine gute Figur gemacht hat. Es ist schon so, dass das Thema den Menschen Angst macht. Es wird nicht schaden, aber auch nicht viel nützen. STANDARD: Kann es der SPD noch nützen, auf das Thema Arbeitsmarktreform mit der Hartz-Kommission zu setzen? Güllner: Das ist einer der Fehler, dass Schröder zu wenig für den Arbeitsmarkt getan hat. Er hat auf das Bündnis für Arbeit gesetzt. Zu den Vorschlägen der Hartz-Kommission sagen zwei Drittel, die Richtung stimmt. STANDARD: Kann die SPD damit Unentschiedene mobilisieren? Güllner: Die SPD hat keine homogene Wählerschicht. Die SPD hat Stammwähler, das sind Gerechtigkeitsfanatiker, und Modernisierer. Letztere finden die Vorschläge der Hartz-Kommission gut, und die kann man so mobilisieren. STANDARD: Wie hat sich Stoiber bisher geschlagen? Güllner: Er ist als Bayer nicht so abschreckend wie Franz Josef Strauß, aber er baut zu viel Distanz auf. Klug ist, dass er sich nicht in die rechte Ecke hat drängen lassen. STANDARD: Kann es bei den kleineren Parteien noch Überraschungen geben? Güllner: Die Grünen sind relativ gefestigt bei sechs, sieben Prozent. Die FDP könnte auch ein zweistelliges Ergebnis erzielen. Für die PDS kann Gregor Gysis Rückzug existenzgefährdend sein. Gysi hatte einen Bonus vor allem im Westen. Sie brauchen dort aber 1,2 bis 1,3 Prozent, um gesamtdeutsch über die Fünfprozenthürde zu kommen. STANDARD: War Rot-Grün ein historischer Zufall? Güllner: Es gibt keine strukturelle linke Mehrheit. Die Grünen sind auch keine linke Partei. Insgesamt war Rot-Grün 1998 ein Zufallsereignis. Schröder war für eine große Koalition, konnte aber wegen der komfortablen Mehrheit für Rot-Grün nicht anders. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.08.2002)