Vierunddreißig Tage ImPulsTanz in Wien sind vorüber: In 78 Vorstellungen mit 39 unterschiedlichen Produktionen, darunter größtenteils Österreich-Premieren inklusive sechs Uraufführungen, wurden an die 30.000 Besucher gezählt. Wiederum ein Erfolg - der auf einmaligen Gegebenheiten beruht.Wien - Tanzfestivals gibt es in ganz Europa, von Tallinn (Estland), Kuopio (Finnland) oder Bytom (Polen) über Berlin bis nach Lyon, Montpellier oder Valencia. Orte, die nur für einen Bruchteil des weltweiten Angebots in Sachen Tanz stehen. ImPulsTanz, erstmals abgehalten 1988, gilt heute als das größte europäische Tanz- und Performancefestival.

Einer strikt konzeptuellen Programmlinie hat man sich nie unterworfen. Gut so! Denn dadurch wurde Offenheit für Aktuelles wie bereits Etabliertes gewährt, waren stets Klassiker des modernen Tanzes genauso vertreten wie der unbekannte Nachwuchs.

Das Experiment, die Improvisation, das Interdisziplinäre fanden sich parallel zum schon Bewährten. Dass sich bei Improvisationen, wenn auch ausgeführt von Prominenten ihres Faches, z. B. von Benoît Lachambre & Andrew L. Harwood, gelegentlich die Ausführenden untereinander mehr amüsieren als manche Betrachter, die das "Grasgehüpfe" im "Performance Space" der Kunsthalle mitunter kalt lässt oder einfach fadisiert, gehört dazu.

Die Tanzkünstler kommen gerne nach Wien. Nicht nur, um hier aufzutreten. Denn ImPulsTanz ist nur ein, wenn auch wesentlicher, Teil des ganzen Unternehmens: Dazu kommen die 172 Workshops, die Researchprojekte und Intensivseminare, gehört das seit fünf Jahren existente Stipendiatenprogramm "danceWEB", welches an die 50 Nachwuchstänzer oder zukünftige Tanzschöpfer in Wien versammelt. Auch sie sind Publikum.

Dank sämtlicher Reprisen von Schlüsselwerken der jüngeren Tanzgeschichte bot und bietet man ihnen ein visuelles Kompendium. Und nicht zu unterschätzen ist der während des Festivals stattfindende kreative Austausch. Nirgendwo sonst haben pädagogisch wirkende Choreografen, haben auftretende Künstler Zeit und Gelegenheit, um sich auch einmal mit Kollegen auf der Bühne auseinander zu setzen und auszutauschen.

Gerade das auch macht das spezifische Flair von ImPulsTanz aus. Von einer positiv zu wertenden stilistischen Mischkulanz war das dicht angelegte finale Wochenende. Neben Antony Rizzys passagenweise in Bewegung umgesetztes Sprachwirrwar Judy Was Angry und Ushio Amagatsus zeremoniellem Butoh-Blütenzauber Kagemi sah man auch hierzulande geschaffene Produktionen.

Im Arsenal, auf weiß bedecktem Boden, fand Willi Dorners Trio not at all statt. Um das weiß ausgeschlagene Geviert saß, kauerte, ging das Publikum. Im Zentrum Helga Guszner, Anna MacRae und Matthew Smith. Sie liegen, sie stehen, breiten Gesten aus. Darüber flach, wie ein Spiegelbild, läuft das Video ab.

Vertikale und horizontale Strichzeichen formen sich, gelegentlich erkennt man Buchstaben, dann wieder werden die Tänzerkörper minimiert abgebildet. Auf Aktionsfläche erscheinen die Tänzer wie manipulierte Marionetten, Puppen, deren Gelenke an unsichtbaren Fäden hängen. Die Glieder bewegen sich vertikal und horizontal. Zumindest am Beginn. Dann wächst die persönliche Individualität, streben alle nach Reaktionen, die sich aus dem körperlichen Miteinander ergeben.

Da kommt eine schon verloren geglaubte Körpersprache in den Tanz: Auf den Leib übertragene Videotechnik pur war bei Vivisector von Chris Haring und Klaus Obermaier zu sehen. Zuerst in Körperschablone gefasste Quadrate, stilisierte Bewegung! Schwarzes Theater? "Laterna Magica", wie man es aus Prag kennt? Immerhin, der Effekt tut seine Wirkung.

Vage Formen

Dann plötzlich ein Lichtwechsel. Aus dem Dunkel wachsen stattliche Rücken, die sich feinnervig in Bewegung setzen, Schultern, die rotieren, bis sich schließlich der anonyme Bewegungsapparat in Gang setzt. In den Zwischenspielen sind die vier Tänzer als Männer zu erkennen, bewegen sich statisch, präsentieren akkurat eingesetzte, leibliche Gesamtkörperlichkeit. Da wird der Bewegungsapparat in Einzelteile zerlegt, zeigt man, was virtuos alles möglich ist.

In Vivisector geht es jedoch nicht alleine um Schaustellung und um Tanz. Der "noch" vorhandene Tanz wird zum Attribut, wird zu Design, die Körperhaut zum Vermittler und zur Bildfläche eines beachtlich konzipierten Computerdesigns, innerhalb dessen der Mensch nur noch mobiles Objekt ist. Dass sich mittels Projektion die extremsten visuellen Spielereien, von der absurden Verzerrung bis zum Echtabbild, machen lassen, ist klar. Der von Klaus Obermaier und Chris Haring eingeschlagene Weg ist aufgegangen. Vivisector gehört zum Eröffnungsprogramm der Ars Electronica. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.8.2002)